Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.diesen und den Todesfällen die meisten keinen das liebte Traurigkeit. Wenn ein andrer Schmerz bis zum Verdruß, ein andrer Verlust bis zur Verzweiflung, ein andrer Zorn bis zur Feind- schaft, ein andres Schrecken bis zum Entsetz- lichen, ein andrer Unwille bis zum Ekel über- geht: so unterhält uns der verliebte Schmerz noch mit Annehmlichkeit: der verliebte Verlust macht uns nicht untröstlich: der verliebte Zorn ist ein kleines Wölkchen in der Morgenröthe, der verliebte Schrecken läßt uns die Zunge zu sprechen, und die Hand zu schreiben frei: der verliebte Unwille wird erneuerte Liebe. Daher fließt diese bittersüße Empfindung in jene hin- kende Verse aus, die halb sich, halb den andern rechtfertigt, hasset, liebet und ergötzet. * Hier kommen die Elegien über Thiere, oder leblose Sachen, die uns lieb gewesen, zu ste- hen: Catulls Liedchen auf den Tod seines Sperlings, und Gleims sterbende Nach- tigall, der Mad. Karschinn Klagen über einen Canarienvogel u. s. w. Obgleich die Zeit ziemlich vergangen, da die Helden Homers mit ihren Pferden sprechen, und diese über den Tod ihrer Herren, "erstarret stehen, wie ein "Leichenstein über dem Grabe eines verstorb- "nen Q 2
dieſen und den Todesfaͤllen die meiſten keinen das liebte Traurigkeit. Wenn ein andrer Schmerz bis zum Verdruß, ein andrer Verluſt bis zur Verzweiflung, ein andrer Zorn bis zur Feind- ſchaft, ein andres Schrecken bis zum Entſetz- lichen, ein andrer Unwille bis zum Ekel uͤber- geht: ſo unterhaͤlt uns der verliebte Schmerz noch mit Annehmlichkeit: der verliebte Verluſt macht uns nicht untroͤſtlich: der verliebte Zorn iſt ein kleines Woͤlkchen in der Morgenroͤthe, der verliebte Schrecken laͤßt uns die Zunge zu ſprechen, und die Hand zu ſchreiben frei: der verliebte Unwille wird erneuerte Liebe. Daher fließt dieſe bitterſuͤße Empfindung in jene hin- kende Verſe aus, die halb ſich, halb den andern rechtfertigt, haſſet, liebet und ergoͤtzet. * Hier kommen die Elegien uͤber Thiere, oder lebloſe Sachen, die uns lieb geweſen, zu ſte- hen: Catulls Liedchen auf den Tod ſeines Sperlings, und Gleims ſterbende Nach- tigall, der Mad. Karſchinn Klagen uͤber einen Canarienvogel u. ſ. w. Obgleich die Zeit ziemlich vergangen, da die Helden Homers mit ihren Pferden ſprechen, und dieſe uͤber den Tod ihrer Herren, „erſtarret ſtehen, wie ein „Leichenſtein uͤber dem Grabe eines verſtorb- „nen Q 2
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dieſen und den Todesfaͤllen die meiſten keinen
andern Gegenſtand der Elegie kennen *. Jch
will nur noch dieſes anmerken. Auch ohne
das
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* Hier kommen die Elegien uͤber Thiere, oder
lebloſe Sachen, die uns lieb geweſen, zu ſte-
hen: Catulls Liedchen auf den Tod ſeines
Sperlings, und Gleims ſterbende Nach-
tigall, der Mad. Karſchinn Klagen uͤber
einen Canarienvogel u. ſ. w. Obgleich die
Zeit ziemlich vergangen, da die Helden Homers
mit ihren Pferden ſprechen, und dieſe uͤber den
Tod ihrer Herren, „erſtarret ſtehen, wie ein
„Leichenſtein uͤber dem Grabe eines verſtorb-
„nen
* liebte Traurigkeit. Wenn ein andrer Schmerz
bis zum Verdruß, ein andrer Verluſt bis zur
Verzweiflung, ein andrer Zorn bis zur Feind-
ſchaft, ein andres Schrecken bis zum Entſetz-
lichen, ein andrer Unwille bis zum Ekel uͤber-
geht: ſo unterhaͤlt uns der verliebte Schmerz
noch mit Annehmlichkeit: der verliebte Verluſt
macht uns nicht untroͤſtlich: der verliebte Zorn
iſt ein kleines Woͤlkchen in der Morgenroͤthe,
der verliebte Schrecken laͤßt uns die Zunge zu
ſprechen, und die Hand zu ſchreiben frei: der
verliebte Unwille wird erneuerte Liebe. Daher
fließt dieſe bitterſuͤße Empfindung in jene hin-
kende Verſe aus, die halb ſich, halb den andern
rechtfertigt, haſſet, liebet und ergoͤtzet.
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