"stände näher hinzu, und werden folglich grös- "ser, sinnlicher und lebhafter. Die Gründe, "deren sie sich bedient, sind ganz aus dem "Reiche der Wahrscheinlichkeit. Ein unend- "licher Vortheil! Denn aller Scharfsinn des "Redners kann sich dabei üben: alle seine Er- "findung. Ferner; weil das Wahrscheinli- "che seine Hülfe von allen kleinen Umständen "zusammen sucht: so bereiten eben diese Um- "stände, folglich schon die Beweisgründe, die "Leidenschaften zu. Denn diese Umstände lie- "gen in den Seelen der Zuhörer, so zu sagen, "neben andern verwandten, die dem Zunder zu "vergleichen sind. Der Redner darf sie "gleichsam nur rühren, damit Luft hinein- "komme, und alles fängt an zu glühen. "Bläset er vollends an: so ist alles eine "Flamme.
"Wenn Cicero einen Clodius verdächtig "macht: so geht er sein ganzes voriges Leben "durch. Wie viele Handlungen müssen dar- "inn nicht gewesen seyn, wodurch diesem oder "jenem von den Zuhörern Unrecht geschehen! "Diese Erinnerung gibt in der Seele dieses "Mannes dem Beweise des Redners schon
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„ſtaͤnde naͤher hinzu, und werden folglich groͤſ- „ſer, ſinnlicher und lebhafter. Die Gruͤnde, „deren ſie ſich bedient, ſind ganz aus dem „Reiche der Wahrſcheinlichkeit. Ein unend- „licher Vortheil! Denn aller Scharfſinn des „Redners kann ſich dabei uͤben: alle ſeine Er- „findung. Ferner; weil das Wahrſcheinli- „che ſeine Huͤlfe von allen kleinen Umſtaͤnden „zuſammen ſucht: ſo bereiten eben dieſe Um- „ſtaͤnde, folglich ſchon die Beweisgruͤnde, die „Leidenſchaften zu. Denn dieſe Umſtaͤnde lie- „gen in den Seelen der Zuhoͤrer, ſo zu ſagen, „neben andern verwandten, die dem Zunder zu „vergleichen ſind. Der Redner darf ſie „gleichſam nur ruͤhren, damit Luft hinein- „komme, und alles faͤngt an zu gluͤhen. „Blaͤſet er vollends an: ſo iſt alles eine „Flamme.
„Wenn Cicero einen Clodius verdaͤchtig „macht: ſo geht er ſein ganzes voriges Leben „durch. Wie viele Handlungen muͤſſen dar- „inn nicht geweſen ſeyn, wodurch dieſem oder „jenem von den Zuhoͤrern Unrecht geſchehen! „Dieſe Erinnerung gibt in der Seele dieſes „Mannes dem Beweiſe des Redners ſchon
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„ſtaͤnde naͤher hinzu, und werden folglich groͤſ-
„ſer, ſinnlicher und lebhafter. Die Gruͤnde,
„deren ſie ſich bedient, ſind ganz aus dem
„Reiche der Wahrſcheinlichkeit. Ein unend-
„licher Vortheil! Denn aller Scharfſinn des
„Redners kann ſich dabei uͤben: alle ſeine Er-
„findung. Ferner; weil das Wahrſcheinli-
„che ſeine Huͤlfe von allen kleinen Umſtaͤnden
„zuſammen ſucht: ſo bereiten eben dieſe Um-
„ſtaͤnde, folglich ſchon die Beweisgruͤnde, die
„Leidenſchaften zu. Denn dieſe Umſtaͤnde lie-
„gen in den Seelen der Zuhoͤrer, ſo zu ſagen,
„neben andern verwandten, die dem Zunder zu
„vergleichen ſind. Der Redner darf ſie
„gleichſam nur ruͤhren, damit Luft hinein-
„komme, und alles faͤngt an zu gluͤhen.
„Blaͤſet er vollends an: ſo iſt alles eine
„Flamme.
„Wenn Cicero einen Clodius verdaͤchtig
„macht: ſo geht er ſein ganzes voriges Leben
„durch. Wie viele Handlungen muͤſſen dar-
„inn nicht geweſen ſeyn, wodurch dieſem oder
„jenem von den Zuhoͤrern Unrecht geſchehen!
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„Mannes dem Beweiſe des Redners ſchon
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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 265. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/273>, abgerufen am 21.11.2024.
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