Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.

Bild:
<< vorherige Seite

"stände näher hinzu, und werden folglich grös-
"ser, sinnlicher und lebhafter. Die Gründe,
"deren sie sich bedient, sind ganz aus dem
"Reiche der Wahrscheinlichkeit. Ein unend-
"licher Vortheil! Denn aller Scharfsinn des
"Redners kann sich dabei üben: alle seine Er-
"findung. Ferner; weil das Wahrscheinli-
"che seine Hülfe von allen kleinen Umständen
"zusammen sucht: so bereiten eben diese Um-
"stände, folglich schon die Beweisgründe, die
"Leidenschaften zu. Denn diese Umstände lie-
"gen in den Seelen der Zuhörer, so zu sagen,
"neben andern verwandten, die dem Zunder zu
"vergleichen sind. Der Redner darf sie
"gleichsam nur rühren, damit Luft hinein-
"komme, und alles fängt an zu glühen.
"Bläset er vollends an: so ist alles eine
"Flamme.

"Wenn Cicero einen Clodius verdächtig
"macht: so geht er sein ganzes voriges Leben
"durch. Wie viele Handlungen müssen dar-
"inn nicht gewesen seyn, wodurch diesem oder
"jenem von den Zuhörern Unrecht geschehen!
"Diese Erinnerung gibt in der Seele dieses
"Mannes dem Beweise des Redners schon

"ein
R 5

„ſtaͤnde naͤher hinzu, und werden folglich groͤſ-
„ſer, ſinnlicher und lebhafter. Die Gruͤnde,
„deren ſie ſich bedient, ſind ganz aus dem
„Reiche der Wahrſcheinlichkeit. Ein unend-
„licher Vortheil! Denn aller Scharfſinn des
„Redners kann ſich dabei uͤben: alle ſeine Er-
„findung. Ferner; weil das Wahrſcheinli-
„che ſeine Huͤlfe von allen kleinen Umſtaͤnden
„zuſammen ſucht: ſo bereiten eben dieſe Um-
„ſtaͤnde, folglich ſchon die Beweisgruͤnde, die
„Leidenſchaften zu. Denn dieſe Umſtaͤnde lie-
„gen in den Seelen der Zuhoͤrer, ſo zu ſagen,
„neben andern verwandten, die dem Zunder zu
„vergleichen ſind. Der Redner darf ſie
„gleichſam nur ruͤhren, damit Luft hinein-
„komme, und alles faͤngt an zu gluͤhen.
„Blaͤſet er vollends an: ſo iſt alles eine
„Flamme.

„Wenn Cicero einen Clodius verdaͤchtig
„macht: ſo geht er ſein ganzes voriges Leben
„durch. Wie viele Handlungen muͤſſen dar-
„inn nicht geweſen ſeyn, wodurch dieſem oder
„jenem von den Zuhoͤrern Unrecht geſchehen!
„Dieſe Erinnerung gibt in der Seele dieſes
„Mannes dem Beweiſe des Redners ſchon

„ein
R 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0273" n="265"/>
&#x201E;&#x017F;ta&#x0364;nde na&#x0364;her hinzu, und werden folglich gro&#x0364;&#x017F;-<lb/>
&#x201E;&#x017F;er, &#x017F;innlicher und lebhafter. Die Gru&#x0364;nde,<lb/>
&#x201E;deren &#x017F;ie &#x017F;ich bedient, &#x017F;ind ganz aus dem<lb/>
&#x201E;Reiche der Wahr&#x017F;cheinlichkeit. Ein unend-<lb/>
&#x201E;licher Vortheil! Denn aller Scharf&#x017F;inn des<lb/>
&#x201E;Redners kann &#x017F;ich dabei u&#x0364;ben: alle &#x017F;eine Er-<lb/>
&#x201E;findung. Ferner; weil das Wahr&#x017F;cheinli-<lb/>
&#x201E;che &#x017F;eine Hu&#x0364;lfe von allen kleinen Um&#x017F;ta&#x0364;nden<lb/>
&#x201E;zu&#x017F;ammen &#x017F;ucht: &#x017F;o bereiten eben die&#x017F;e Um-<lb/>
&#x201E;&#x017F;ta&#x0364;nde, folglich &#x017F;chon die Beweisgru&#x0364;nde, die<lb/>
&#x201E;Leiden&#x017F;chaften zu. Denn die&#x017F;e Um&#x017F;ta&#x0364;nde lie-<lb/>
&#x201E;gen in den Seelen der Zuho&#x0364;rer, &#x017F;o zu &#x017F;agen,<lb/>
&#x201E;neben andern verwandten, die dem Zunder zu<lb/>
&#x201E;vergleichen &#x017F;ind. Der Redner darf &#x017F;ie<lb/>
&#x201E;gleich&#x017F;am nur ru&#x0364;hren, damit Luft hinein-<lb/>
&#x201E;komme, und alles fa&#x0364;ngt an zu glu&#x0364;hen.<lb/>
&#x201E;Bla&#x0364;&#x017F;et er vollends an: &#x017F;o i&#x017F;t alles eine<lb/>
&#x201E;Flamme.</p><lb/>
                <p>&#x201E;Wenn <hi rendition="#fr">Cicero</hi> einen <hi rendition="#fr">Clodius</hi> verda&#x0364;chtig<lb/>
&#x201E;macht: &#x017F;o geht er &#x017F;ein ganzes voriges Leben<lb/>
&#x201E;durch. Wie viele Handlungen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en dar-<lb/>
&#x201E;inn nicht gewe&#x017F;en &#x017F;eyn, wodurch die&#x017F;em oder<lb/>
&#x201E;jenem von den Zuho&#x0364;rern Unrecht ge&#x017F;chehen!<lb/>
&#x201E;Die&#x017F;e Erinnerung gibt in der Seele die&#x017F;es<lb/>
&#x201E;Mannes dem Bewei&#x017F;e des Redners &#x017F;chon<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">R 5</fw><fw place="bottom" type="catch">&#x201E;ein</fw><lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[265/0273] „ſtaͤnde naͤher hinzu, und werden folglich groͤſ- „ſer, ſinnlicher und lebhafter. Die Gruͤnde, „deren ſie ſich bedient, ſind ganz aus dem „Reiche der Wahrſcheinlichkeit. Ein unend- „licher Vortheil! Denn aller Scharfſinn des „Redners kann ſich dabei uͤben: alle ſeine Er- „findung. Ferner; weil das Wahrſcheinli- „che ſeine Huͤlfe von allen kleinen Umſtaͤnden „zuſammen ſucht: ſo bereiten eben dieſe Um- „ſtaͤnde, folglich ſchon die Beweisgruͤnde, die „Leidenſchaften zu. Denn dieſe Umſtaͤnde lie- „gen in den Seelen der Zuhoͤrer, ſo zu ſagen, „neben andern verwandten, die dem Zunder zu „vergleichen ſind. Der Redner darf ſie „gleichſam nur ruͤhren, damit Luft hinein- „komme, und alles faͤngt an zu gluͤhen. „Blaͤſet er vollends an: ſo iſt alles eine „Flamme. „Wenn Cicero einen Clodius verdaͤchtig „macht: ſo geht er ſein ganzes voriges Leben „durch. Wie viele Handlungen muͤſſen dar- „inn nicht geweſen ſeyn, wodurch dieſem oder „jenem von den Zuhoͤrern Unrecht geſchehen! „Dieſe Erinnerung gibt in der Seele dieſes „Mannes dem Beweiſe des Redners ſchon „ein R 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/273
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 265. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/273>, abgerufen am 26.06.2024.