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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.

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"Dinge, wobei abstrakte Untersuchungen weg-
"fallen," wechseln wir mit Worten, wie mit
Geldstücken: jedes soll seinen bestimmten
Werth haben: aber ob es ihn hat, und ob
der andre weiß, wie viel es haben soll;
das ist eine ganz andre Frage. Ein Frauen-
zimmer, das gut, nicht aber gelehrt, erzogen
ist, wird über Dinge, die in ihrer Sphäre
sind, mit einer Geläufigkeit, ungekünstelten
Bestimmtheit,
und naiven Schönheit spre-
chen, daß sie gefällt; kömmt aber ein Schul-
gelehrter, der ihre Worte wägen will: so
wird sie schüchtern werden; will er philo-
sophische Erklärungen
und Bestimmun-
gen;
so wird sie stammeln -- nochmals stam-
meln, und endlich dasselbe Wort wiederholen;
will er jetzt aber grammatische Zierlich-
keiten
lehren, wie sie es besser hätte sagen
können: so wird sie sich loswinden, und ihn
von weiten anhören:

als ob der graduirte Mann
mit einem Zauberfluche
sie zu beschwören suche.

Warum? sie ist gewohnt, über ihre Welt
klar, aber nicht logischdeutlich zu denken,

ver-
D 3

„Dinge, wobei abſtrakte Unterſuchungen weg-
„fallen,„ wechſeln wir mit Worten, wie mit
Geldſtuͤcken: jedes ſoll ſeinen beſtimmten
Werth haben: aber ob es ihn hat, und ob
der andre weiß, wie viel es haben ſoll;
das iſt eine ganz andre Frage. Ein Frauen-
zimmer, das gut, nicht aber gelehrt, erzogen
iſt, wird uͤber Dinge, die in ihrer Sphaͤre
ſind, mit einer Gelaͤufigkeit, ungekuͤnſtelten
Beſtimmtheit,
und naiven Schoͤnheit ſpre-
chen, daß ſie gefaͤllt; koͤmmt aber ein Schul-
gelehrter, der ihre Worte waͤgen will: ſo
wird ſie ſchuͤchtern werden; will er philo-
ſophiſche Erklaͤrungen
und Beſtimmun-
gen;
ſo wird ſie ſtammeln — nochmals ſtam-
meln, und endlich daſſelbe Wort wiederholen;
will er jetzt aber grammatiſche Zierlich-
keiten
lehren, wie ſie es beſſer haͤtte ſagen
koͤnnen: ſo wird ſie ſich loswinden, und ihn
von weiten anhoͤren:

als ob der graduirte Mann
mit einem Zauberfluche
ſie zu beſchwoͤren ſuche.

Warum? ſie iſt gewohnt, uͤber ihre Welt
klar, aber nicht logiſchdeutlich zu denken,

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D 3
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[53/0061] „Dinge, wobei abſtrakte Unterſuchungen weg- „fallen,„ wechſeln wir mit Worten, wie mit Geldſtuͤcken: jedes ſoll ſeinen beſtimmten Werth haben: aber ob es ihn hat, und ob der andre weiß, wie viel es haben ſoll; das iſt eine ganz andre Frage. Ein Frauen- zimmer, das gut, nicht aber gelehrt, erzogen iſt, wird uͤber Dinge, die in ihrer Sphaͤre ſind, mit einer Gelaͤufigkeit, ungekuͤnſtelten Beſtimmtheit, und naiven Schoͤnheit ſpre- chen, daß ſie gefaͤllt; koͤmmt aber ein Schul- gelehrter, der ihre Worte waͤgen will: ſo wird ſie ſchuͤchtern werden; will er philo- ſophiſche Erklaͤrungen und Beſtimmun- gen; ſo wird ſie ſtammeln — nochmals ſtam- meln, und endlich daſſelbe Wort wiederholen; will er jetzt aber grammatiſche Zierlich- keiten lehren, wie ſie es beſſer haͤtte ſagen koͤnnen: ſo wird ſie ſich loswinden, und ihn von weiten anhoͤren: als ob der graduirte Mann mit einem Zauberfluche ſie zu beſchwoͤren ſuche. Warum? ſie iſt gewohnt, uͤber ihre Welt klar, aber nicht logiſchdeutlich zu denken, ver- D 3

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/61>, abgerufen am 25.11.2024.