Hilty, Carl: Frauenstimmrecht. In: Hilty, Carl (Hg.): Politisches Jahrbuch der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Bern, 1897.Frauenstimmrecht.
sind, die ihre eigene Unfähigkeit zwar empfinden, aber dennochnicht den Muth haben, den bessern Theil regieren zu lassen. Wenn endlich diese Stellen aus den Briefen des Apostels heute unbedingt verbindlich sein sollten, so müssten vor Allem die Frauen auf dem Throne1) getroffen werden, die dort nicht allein eine Stellung in der Oeffentlichkeit haben, welche sich mit der Ansicht des Apostels nicht verträgt, sondern sogar in protestantischen Staaten irdisches Haupt der Kirche sind. Von Christus selbst ist, wie ebenfalls schon gesagt wurde, eine solche Lehre nicht vorhanden. Im Gegentheil eine seiner ausführlichsten und tiefsten Reden -- man könnte auf heutigem Standpunkte sagen Predigten -- rich- tete er an eine einzelne Frau und hatte auch nicht das Ge- ringste dagegen, dass dieselbe dann öffentlich als Verkündigerin dieses Evangeliums bei ihren Stadtgenossen auftrat, so dass man mit historischem Grund sagen könnte, der erste Prediger des Christenthums sei, mit Zustimmung des Herrn, nicht ein Mann, sondern eine Frau gewesen.2) Das Christenthum kennt in seinen allerwesentlichsten Vorschriften und Heilsbedingungen den ge- schlechtlichen Unterschied so wenig, dass das kanonische Rechts- buch genöthigt ist, da wo es die Rechtsungleichheit der beiden Geschlechter betont, auf das alte Testament zurückzugreifen,3) 1) Das Thronfolgerecht der Frauen besteht z.B. in England, Holland, Russland, Spanien, Portugal, für gewisse Fälle auch in Oesterreich, Preussen, Baiern, Sachsen und Württemberg. Gegenwärtig regieren Frauen in England, Holland und Spanien. Ohne Zweifel können schon nach heutigem Völkerrecht Frauen auch Gesandte werden. 2) Vergl. Ev. Joh. IV, 27--30, 39. Es wird auch nicht ohne Grund die Vermuthung ausgesprochen, dass unter den ersten Chri- sten, die zu Pfingsten den hl. Geist empfiengen, ganz gleichmässig Frauen wie Männer gewesen sein müssen. Ap.-Gesch. I, 14, II, 1. 3) Decretalen II, 9, 23, c. 17: "Adam per Evam deceptus est,
non Eva per Adam. Quem vocavit ad culpam mulier, justum est ut eum gubernatorem assumat, ne iterum feminea facilitate labetur." Frauenstimmrecht.
sind, die ihre eigene Unfähigkeit zwar empfinden, aber dennochnicht den Muth haben, den bessern Theil regieren zu lassen. Wenn endlich diese Stellen aus den Briefen des Apostels heute unbedingt verbindlich sein sollten, so müssten vor Allem die Frauen auf dem Throne1) getroffen werden, die dort nicht allein eine Stellung in der Oeffentlichkeit haben, welche sich mit der Ansicht des Apostels nicht verträgt, sondern sogar in protestantischen Staaten irdisches Haupt der Kirche sind. Von Christus selbst ist, wie ebenfalls schon gesagt wurde, eine solche Lehre nicht vorhanden. Im Gegentheil eine seiner ausführlichsten und tiefsten Reden — man könnte auf heutigem Standpunkte sagen Predigten — rich- tete er an eine einzelne Frau und hatte auch nicht das Ge- ringste dagegen, dass dieselbe dann öffentlich als Verkündigerin dieses Evangeliums bei ihren Stadtgenossen auftrat, so dass man mit historischem Grund sagen könnte, der erste Prediger des Christenthums sei, mit Zustimmung des Herrn, nicht ein Mann, sondern eine Frau gewesen.2) Das Christenthum kennt in seinen allerwesentlichsten Vorschriften und Heilsbedingungen den ge- schlechtlichen Unterschied so wenig, dass das kanonische Rechts- buch genöthigt ist, da wo es die Rechtsungleichheit der beiden Geschlechter betont, auf das alte Testament zurückzugreifen,3) 1) Das Thronfolgerecht der Frauen besteht z.B. in England, Holland, Russland, Spanien, Portugal, für gewisse Fälle auch in Oesterreich, Preussen, Baiern, Sachsen und Württemberg. Gegenwärtig regieren Frauen in England, Holland und Spanien. Ohne Zweifel können schon nach heutigem Völkerrecht Frauen auch Gesandte werden. 2) Vergl. Ev. Joh. IV, 27—30, 39. Es wird auch nicht ohne Grund die Vermuthung ausgesprochen, dass unter den ersten Chri- sten, die zu Pfingsten den hl. Geist empfiengen, ganz gleichmässig Frauen wie Männer gewesen sein müssen. Ap.-Gesch. I, 14, II, 1. 3) Decretalen II, 9, 23, c. 17: «Adam per Evam deceptus est,
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Frauenstimmrecht.
sind, die ihre eigene Unfähigkeit zwar empfinden, aber dennoch
nicht den Muth haben, den bessern Theil regieren zu
lassen. Wenn endlich diese Stellen aus den Briefen des
Apostels heute unbedingt verbindlich sein sollten, so müssten
vor Allem die Frauen auf dem Throne 1) getroffen werden,
die dort nicht allein eine Stellung in der Oeffentlichkeit haben,
welche sich mit der Ansicht des Apostels nicht verträgt,
sondern sogar in protestantischen Staaten irdisches Haupt
der Kirche sind. Von Christus selbst ist, wie ebenfalls
schon gesagt wurde, eine solche Lehre nicht vorhanden. Im
Gegentheil eine seiner ausführlichsten und tiefsten Reden —
man könnte auf heutigem Standpunkte sagen Predigten — rich-
tete er an eine einzelne Frau und hatte auch nicht das Ge-
ringste dagegen, dass dieselbe dann öffentlich als Verkündigerin
dieses Evangeliums bei ihren Stadtgenossen auftrat, so dass
man mit historischem Grund sagen könnte, der erste Prediger des
Christenthums sei, mit Zustimmung des Herrn, nicht ein Mann,
sondern eine Frau gewesen. 2) Das Christenthum kennt in seinen
allerwesentlichsten Vorschriften und Heilsbedingungen den ge-
schlechtlichen Unterschied so wenig, dass das kanonische Rechts-
buch genöthigt ist, da wo es die Rechtsungleichheit der beiden
Geschlechter betont, auf das alte Testament zurückzugreifen, 3)
1) Das Thronfolgerecht der Frauen besteht z.B. in England, Holland,
Russland, Spanien, Portugal, für gewisse Fälle auch in Oesterreich,
Preussen, Baiern, Sachsen und Württemberg. Gegenwärtig regieren
Frauen in England, Holland und Spanien. Ohne Zweifel können
schon nach heutigem Völkerrecht Frauen auch Gesandte werden.
2) Vergl. Ev. Joh. IV, 27—30, 39. Es wird auch nicht ohne
Grund die Vermuthung ausgesprochen, dass unter den ersten Chri-
sten, die zu Pfingsten den hl. Geist empfiengen, ganz gleichmässig
Frauen wie Männer gewesen sein müssen. Ap.-Gesch. I, 14, II, 1.
3) Decretalen II, 9, 23, c. 17: «Adam per Evam deceptus est,
non Eva per Adam. Quem vocavit ad culpam mulier, justum est
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