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Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 1. Berlin, 1778.

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ter irrte; es war ein Brief an meinen Vater,
und einer an mich.

Auch gut, sagte meine Mutter, laß hören.

Der Brief an meinen Vater enthielt eine
Danksagung für alle Freundschaft. Das
Herz redete darin. Dem Wohlehrwürdigen
Mann flossen Thränen die Wange herab.
Jede von diesen sanft abschleichenden Zäh-
ren verdiente in eine Perle verwandelt zu
werden. Wenn er gestorben wäre, setzte dein
Grosvater hinzu, würd' ich nicht weinen;
ich hab noch nie über einen Todten geweint,
denn er ruhet in Gottes Hand, allein ich wei-
ne über ihn, weil er nicht todt ist.

Es ist ein sehr rührender Anblick, einen
glücklichen Mann weinen zu sehen! -- Ich
glaube, wenn er je gewünscht, ein Kreuzträ-
ger andrer Art zu seyn; so war es jetzo.
An deine Grosmutter hatte dein Vater einen
kostbaren Ring beygelegt, den er, wie er
schrieb, für seine Braut bestimmt gehabt, und
den er jetzt nicht besser, als auf diese Art an-
zuwenden wüßte. Mein Vater behauptete,
dieses wäre das lezte Lebewohl, meine Mut-
ter, es sey ein frischer Wurm zum Hamen.
Mein Vater und meine Mutter behaupteten
jedes seine Meinung, und ich ärgerte mich

übern
S 3

ter irrte; es war ein Brief an meinen Vater,
und einer an mich.

Auch gut, ſagte meine Mutter, laß hoͤren.

Der Brief an meinen Vater enthielt eine
Dankſagung fuͤr alle Freundſchaft. Das
Herz redete darin. Dem Wohlehrwuͤrdigen
Mann floſſen Thraͤnen die Wange herab.
Jede von dieſen ſanft abſchleichenden Zaͤh-
ren verdiente in eine Perle verwandelt zu
werden. Wenn er geſtorben waͤre, ſetzte dein
Grosvater hinzu, wuͤrd’ ich nicht weinen;
ich hab noch nie uͤber einen Todten geweint,
denn er ruhet in Gottes Hand, allein ich wei-
ne uͤber ihn, weil er nicht todt iſt.

Es iſt ein ſehr ruͤhrender Anblick, einen
gluͤcklichen Mann weinen zu ſehen! — Ich
glaube, wenn er je gewuͤnſcht, ein Kreuztraͤ-
ger andrer Art zu ſeyn; ſo war es jetzo.
An deine Grosmutter hatte dein Vater einen
koſtbaren Ring beygelegt, den er, wie er
ſchrieb, fuͤr ſeine Braut beſtimmt gehabt, und
den er jetzt nicht beſſer, als auf dieſe Art an-
zuwenden wuͤßte. Mein Vater behauptete,
dieſes waͤre das lezte Lebewohl, meine Mut-
ter, es ſey ein friſcher Wurm zum Hamen.
Mein Vater und meine Mutter behaupteten
jedes ſeine Meinung, und ich aͤrgerte mich

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[275/0287] ter irrte; es war ein Brief an meinen Vater, und einer an mich. Auch gut, ſagte meine Mutter, laß hoͤren. Der Brief an meinen Vater enthielt eine Dankſagung fuͤr alle Freundſchaft. Das Herz redete darin. Dem Wohlehrwuͤrdigen Mann floſſen Thraͤnen die Wange herab. Jede von dieſen ſanft abſchleichenden Zaͤh- ren verdiente in eine Perle verwandelt zu werden. Wenn er geſtorben waͤre, ſetzte dein Grosvater hinzu, wuͤrd’ ich nicht weinen; ich hab noch nie uͤber einen Todten geweint, denn er ruhet in Gottes Hand, allein ich wei- ne uͤber ihn, weil er nicht todt iſt. Es iſt ein ſehr ruͤhrender Anblick, einen gluͤcklichen Mann weinen zu ſehen! — Ich glaube, wenn er je gewuͤnſcht, ein Kreuztraͤ- ger andrer Art zu ſeyn; ſo war es jetzo. An deine Grosmutter hatte dein Vater einen koſtbaren Ring beygelegt, den er, wie er ſchrieb, fuͤr ſeine Braut beſtimmt gehabt, und den er jetzt nicht beſſer, als auf dieſe Art an- zuwenden wuͤßte. Mein Vater behauptete, dieſes waͤre das lezte Lebewohl, meine Mut- ter, es ſey ein friſcher Wurm zum Hamen. Mein Vater und meine Mutter behaupteten jedes ſeine Meinung, und ich aͤrgerte mich uͤbern S 3

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Zitationshilfe: Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 1. Berlin, 1778, S. 275. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe01_1778/287>, abgerufen am 16.07.2024.