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Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 1. Berlin, 1778.

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sich nur Merkzeichen durch die Vernunft, die
Imagination ist bey ihm blos Köchin. Was
solt ihn also zurück halten, ohne roth zu wer-
den über schwaches Gedächtnis zu klagen?
Manche um auch für tiefe Denker gehalten
zu werden machen es nach, obgleich die gu-
ten Leute weit eher über schlechten Verstand
klagen könnten.

Zum recht guten Gedächtnis gehört et-
was ins Gedächtnis fassen, behalten und
sich wieder erinnern. Sieh! bey der Sache
auf Ursach und Wirkung: Inoculir alles
auf dein Lieblingsstudium, und es ist dir
auch im spätsten Alter als hättest du es vorm
dreyßigsten Jahr, bis zu welcher Zeit beim
Menschen alles in der Blüte stehet, gelernt.
Witzige Leute haben schreckliche Gedächtnisse.
Ueberall finden sie eine Aehnlichkeit -- weil
diese aber oft zu schwach ist, oder weil sie
mit einem Blick zehn Aehnlichkeiten finden
vergessen sie alles -- das Bewußtseyn, fassen
zu können was man will, thut bey einem
Genie oft größere Dinge, als wenn's schon ein
gerüttelt, geschüttelt und überflüßiges Maaß
im Kopf hätte. Ich habe noch keinen Dich-
ter gekandt, der nicht schnell gefaßt hätte,
was er gelesen: Beim mündlichen Vortrage

ge-

ſich nur Merkzeichen durch die Vernunft, die
Imagination iſt bey ihm blos Koͤchin. Was
ſolt ihn alſo zuruͤck halten, ohne roth zu wer-
den uͤber ſchwaches Gedaͤchtnis zu klagen?
Manche um auch fuͤr tiefe Denker gehalten
zu werden machen es nach, obgleich die gu-
ten Leute weit eher uͤber ſchlechten Verſtand
klagen koͤnnten.

Zum recht guten Gedaͤchtnis gehoͤrt et-
was ins Gedaͤchtnis faſſen, behalten und
ſich wieder erinnern. Sieh! bey der Sache
auf Urſach und Wirkung: Inoculir alles
auf dein Lieblingsſtudium, und es iſt dir
auch im ſpaͤtſten Alter als haͤtteſt du es vorm
dreyßigſten Jahr, bis zu welcher Zeit beim
Menſchen alles in der Bluͤte ſtehet, gelernt.
Witzige Leute haben ſchreckliche Gedaͤchtniſſe.
Ueberall finden ſie eine Aehnlichkeit — weil
dieſe aber oft zu ſchwach iſt, oder weil ſie
mit einem Blick zehn Aehnlichkeiten finden
vergeſſen ſie alles — das Bewußtſeyn, faſſen
zu koͤnnen was man will, thut bey einem
Genie oft groͤßere Dinge, als wenn’s ſchon ein
geruͤttelt, geſchuͤttelt und uͤberfluͤßiges Maaß
im Kopf haͤtte. Ich habe noch keinen Dich-
ter gekandt, der nicht ſchnell gefaßt haͤtte,
was er geleſen: Beim muͤndlichen Vortrage

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[34/0042] ſich nur Merkzeichen durch die Vernunft, die Imagination iſt bey ihm blos Koͤchin. Was ſolt ihn alſo zuruͤck halten, ohne roth zu wer- den uͤber ſchwaches Gedaͤchtnis zu klagen? Manche um auch fuͤr tiefe Denker gehalten zu werden machen es nach, obgleich die gu- ten Leute weit eher uͤber ſchlechten Verſtand klagen koͤnnten. Zum recht guten Gedaͤchtnis gehoͤrt et- was ins Gedaͤchtnis faſſen, behalten und ſich wieder erinnern. Sieh! bey der Sache auf Urſach und Wirkung: Inoculir alles auf dein Lieblingsſtudium, und es iſt dir auch im ſpaͤtſten Alter als haͤtteſt du es vorm dreyßigſten Jahr, bis zu welcher Zeit beim Menſchen alles in der Bluͤte ſtehet, gelernt. Witzige Leute haben ſchreckliche Gedaͤchtniſſe. Ueberall finden ſie eine Aehnlichkeit — weil dieſe aber oft zu ſchwach iſt, oder weil ſie mit einem Blick zehn Aehnlichkeiten finden vergeſſen ſie alles — das Bewußtſeyn, faſſen zu koͤnnen was man will, thut bey einem Genie oft groͤßere Dinge, als wenn’s ſchon ein geruͤttelt, geſchuͤttelt und uͤberfluͤßiges Maaß im Kopf haͤtte. Ich habe noch keinen Dich- ter gekandt, der nicht ſchnell gefaßt haͤtte, was er geleſen: Beim muͤndlichen Vortrage ge-

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Zitationshilfe: Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 1. Berlin, 1778, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe01_1778/42>, abgerufen am 21.11.2024.