Die Mutter weinte; denn sie wuste wohl, daß der arme Jacques gern noch eine Semmel gehabt hätte. Jackchen schlug sich mit dem Schlaf, und hatt' einen desto schwerern Stand; denn ihn hungerte, weil er den Schlaf überwunden hatte. Der Vater kam um Mitternacht, und, wie es aus seiner Art Gepolter den Anschein hatte, fröhlich und guter Dinge heim. Der liebe kleine Junge kroch im finstern (zu Licht war kein Dreyer im Hause) zu seinen Füßen. Was da für ein Hund, rief der Unvater? Dein Hünd- chen, lieber Vater, sagte Jacquchen. Er, "fort" der Kleine: "Gleich lieber Vater" Warum läßt dich die Mutter herumkriechen? Auf diese Aufforderung gab das arme Weib, das sich schon längst in ihr Schlafkämmerlein zurückgezogen hatte, keine Sylbe. Der liebe Junge erzählte mit einer himmlischen Leich- tigkeit, daß er sich des Schlafs erwehret, und daß er seinen Vater etwas zu bitten hätte, was seine Mutter nicht hören dürfte. Viel- leicht wacht sie noch, fuhr der Kleine fort. Hebt mich an Eu'r Ohr, oder neigt Euch zu mir. Der arme Junge bat den Vater ganz leise, seiner Mutter zwey Semmeln zurückzu- lassen. Wir beyde, setzt' er hinzu, meine
Schwe-
H 3
Die Mutter weinte; denn ſie wuſte wohl, daß der arme Jacques gern noch eine Semmel gehabt haͤtte. Jackchen ſchlug ſich mit dem Schlaf, und hatt’ einen deſto ſchwerern Stand; denn ihn hungerte, weil er den Schlaf uͤberwunden hatte. Der Vater kam um Mitternacht, und, wie es aus ſeiner Art Gepolter den Anſchein hatte, froͤhlich und guter Dinge heim. Der liebe kleine Junge kroch im finſtern (zu Licht war kein Dreyer im Hauſe) zu ſeinen Fuͤßen. Was da fuͤr ein Hund, rief der Unvater? Dein Huͤnd- chen, lieber Vater, ſagte Jacquchen. Er, „fort“ der Kleine: „Gleich lieber Vater“ Warum laͤßt dich die Mutter herumkriechen? Auf dieſe Aufforderung gab das arme Weib, das ſich ſchon laͤngſt in ihr Schlafkaͤmmerlein zuruͤckgezogen hatte, keine Sylbe. Der liebe Junge erzaͤhlte mit einer himmliſchen Leich- tigkeit, daß er ſich des Schlafs erwehret, und daß er ſeinen Vater etwas zu bitten haͤtte, was ſeine Mutter nicht hoͤren duͤrfte. Viel- leicht wacht ſie noch, fuhr der Kleine fort. Hebt mich an Eu’r Ohr, oder neigt Euch zu mir. Der arme Junge bat den Vater ganz leiſe, ſeiner Mutter zwey Semmeln zuruͤckzu- laſſen. Wir beyde, ſetzt’ er hinzu, meine
Schwe-
H 3
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0123"n="117"/>
Die Mutter weinte; denn ſie wuſte wohl, daß<lb/>
der arme Jacques gern noch eine Semmel<lb/>
gehabt haͤtte. Jackchen ſchlug ſich mit dem<lb/>
Schlaf, und hatt’ einen deſto ſchwerern<lb/>
Stand; denn ihn hungerte, weil er den<lb/>
Schlaf uͤberwunden hatte. Der Vater kam<lb/>
um Mitternacht, und, wie es aus ſeiner Art<lb/>
Gepolter den Anſchein hatte, froͤhlich und<lb/>
guter Dinge heim. Der liebe kleine Junge<lb/>
kroch im finſtern (zu Licht war kein Dreyer<lb/>
im Hauſe) zu ſeinen Fuͤßen. Was da fuͤr<lb/>
ein Hund, rief der Unvater? Dein Huͤnd-<lb/>
chen, lieber Vater, ſagte Jacquchen. Er,<lb/>„fort“ der Kleine: „Gleich lieber Vater“<lb/>
Warum laͤßt dich die Mutter herumkriechen?<lb/>
Auf dieſe Aufforderung gab das arme Weib,<lb/>
das ſich ſchon laͤngſt in ihr Schlafkaͤmmerlein<lb/>
zuruͤckgezogen hatte, keine Sylbe. Der liebe<lb/>
Junge erzaͤhlte mit einer himmliſchen Leich-<lb/>
tigkeit, daß er ſich des Schlafs erwehret,<lb/>
und daß er ſeinen Vater etwas zu bitten haͤtte,<lb/>
was ſeine Mutter nicht hoͤren duͤrfte. Viel-<lb/>
leicht wacht ſie noch, fuhr der Kleine fort.<lb/>
Hebt mich an Eu’r Ohr, oder neigt Euch zu<lb/>
mir. Der arme Junge bat den Vater ganz<lb/>
leiſe, ſeiner Mutter zwey Semmeln zuruͤckzu-<lb/>
laſſen. Wir beyde, ſetzt’ er hinzu, meine<lb/><fwplace="bottom"type="sig">H 3</fw><fwplace="bottom"type="catch">Schwe-</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[117/0123]
Die Mutter weinte; denn ſie wuſte wohl, daß
der arme Jacques gern noch eine Semmel
gehabt haͤtte. Jackchen ſchlug ſich mit dem
Schlaf, und hatt’ einen deſto ſchwerern
Stand; denn ihn hungerte, weil er den
Schlaf uͤberwunden hatte. Der Vater kam
um Mitternacht, und, wie es aus ſeiner Art
Gepolter den Anſchein hatte, froͤhlich und
guter Dinge heim. Der liebe kleine Junge
kroch im finſtern (zu Licht war kein Dreyer
im Hauſe) zu ſeinen Fuͤßen. Was da fuͤr
ein Hund, rief der Unvater? Dein Huͤnd-
chen, lieber Vater, ſagte Jacquchen. Er,
„fort“ der Kleine: „Gleich lieber Vater“
Warum laͤßt dich die Mutter herumkriechen?
Auf dieſe Aufforderung gab das arme Weib,
das ſich ſchon laͤngſt in ihr Schlafkaͤmmerlein
zuruͤckgezogen hatte, keine Sylbe. Der liebe
Junge erzaͤhlte mit einer himmliſchen Leich-
tigkeit, daß er ſich des Schlafs erwehret,
und daß er ſeinen Vater etwas zu bitten haͤtte,
was ſeine Mutter nicht hoͤren duͤrfte. Viel-
leicht wacht ſie noch, fuhr der Kleine fort.
Hebt mich an Eu’r Ohr, oder neigt Euch zu
mir. Der arme Junge bat den Vater ganz
leiſe, ſeiner Mutter zwey Semmeln zuruͤckzu-
laſſen. Wir beyde, ſetzt’ er hinzu, meine
Schwe-
H 3
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 3,1. Berlin, 1781, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe0301_1781/123>, abgerufen am 04.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.