sich die andächtigen Zuhörer das Leben nah- men, da Hegesias die Mühseligkeiten dieses Lebens beschrieb. Die Freude des Lebens, ist sie mehr, als leidlicher Schmerz, als weiner- liche Lust? Wir begrüsten die Welt mit Thrä- nen und wahrlich: Lachen, du bist toll! He- gesias, du hattest halbe Arbeit, deine Zuhö- rer waren schon vor deiner Rede überzeugt! Weit mehr ists bedenklich, daß sich eine le- bendige Seele über ein Buch, das ein Christ von der andern Welt geschrieben hatte, das Lebenslicht ausblies. War es Neugier? Die Neugier ist, wenn ich nicht irre, von dieser Welt. Die Vernunft zeigt den Tod als was wünschenswürdiges; die Sinnlichkeit, als ei- nen König der Schrecken. Nicht die viel den- ken, sondern die viel thun, verpflichten sich mit dem Leben. Der Mensch lebt, die meiste Zeit, wie das liebe Vieh, und noch öfter stirbt er so. Warum? Die Vernunft ist dem Men- schen gegeben, um Tod und Leben zu würzen, und jedem von beyden seinen Jahreszeitge- schmack beyzulegen. Sie besitzt die einfachen Hausmittel, die uns im Leben und Sterben wo nicht froh, so doch getrost zu seyn lehren. Die Röthe, so sehr sie einnimmt, was ist sie, Tod oder Leben? Wer, wenn er sein Urtel
über
M 3
ſich die andaͤchtigen Zuhoͤrer das Leben nah- men, da Hegeſias die Muͤhſeligkeiten dieſes Lebens beſchrieb. Die Freude des Lebens, iſt ſie mehr, als leidlicher Schmerz, als weiner- liche Luſt? Wir begruͤſten die Welt mit Thraͤ- nen und wahrlich: Lachen, du biſt toll! He- geſias, du hatteſt halbe Arbeit, deine Zuhoͤ- rer waren ſchon vor deiner Rede uͤberzeugt! Weit mehr iſts bedenklich, daß ſich eine le- bendige Seele uͤber ein Buch, das ein Chriſt von der andern Welt geſchrieben hatte, das Lebenslicht ausblies. War es Neugier? Die Neugier iſt, wenn ich nicht irre, von dieſer Welt. Die Vernunft zeigt den Tod als was wuͤnſchenswuͤrdiges; die Sinnlichkeit, als ei- nen Koͤnig der Schrecken. Nicht die viel den- ken, ſondern die viel thun, verpflichten ſich mit dem Leben. Der Menſch lebt, die meiſte Zeit, wie das liebe Vieh, und noch oͤfter ſtirbt er ſo. Warum? Die Vernunft iſt dem Men- ſchen gegeben, um Tod und Leben zu wuͤrzen, und jedem von beyden ſeinen Jahreszeitge- ſchmack beyzulegen. Sie beſitzt die einfachen Hausmittel, die uns im Leben und Sterben wo nicht froh, ſo doch getroſt zu ſeyn lehren. Die Roͤthe, ſo ſehr ſie einnimmt, was iſt ſie, Tod oder Leben? Wer, wenn er ſein Urtel
uͤber
M 3
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0187"n="181"/>ſich die andaͤchtigen Zuhoͤrer das Leben nah-<lb/>
men, da Hegeſias die Muͤhſeligkeiten dieſes<lb/>
Lebens beſchrieb. Die Freude des Lebens, iſt<lb/>ſie mehr, als leidlicher Schmerz, als weiner-<lb/>
liche Luſt? Wir begruͤſten die Welt mit Thraͤ-<lb/>
nen und wahrlich: Lachen, du biſt toll! <hirendition="#fr">He-<lb/>
geſias,</hi> du hatteſt halbe Arbeit, deine Zuhoͤ-<lb/>
rer waren ſchon vor deiner Rede uͤberzeugt!<lb/>
Weit mehr iſts bedenklich, daß ſich eine le-<lb/>
bendige Seele uͤber ein Buch, das ein Chriſt<lb/>
von der andern Welt geſchrieben hatte, das<lb/>
Lebenslicht ausblies. War es Neugier? Die<lb/>
Neugier iſt, wenn ich nicht irre, von dieſer<lb/>
Welt. Die Vernunft zeigt den Tod als was<lb/>
wuͤnſchenswuͤrdiges; die Sinnlichkeit, als ei-<lb/>
nen Koͤnig der Schrecken. Nicht die viel den-<lb/>
ken, ſondern die viel thun, verpflichten ſich<lb/>
mit dem Leben. Der Menſch lebt, die meiſte<lb/>
Zeit, wie das liebe Vieh, und noch oͤfter ſtirbt<lb/>
er ſo. Warum? Die Vernunft iſt dem Men-<lb/>ſchen gegeben, um Tod und Leben zu wuͤrzen,<lb/>
und jedem von beyden ſeinen Jahreszeitge-<lb/>ſchmack beyzulegen. Sie beſitzt die einfachen<lb/>
Hausmittel, die uns im Leben und Sterben<lb/>
wo nicht froh, ſo doch getroſt zu ſeyn lehren.<lb/>
Die Roͤthe, ſo ſehr ſie einnimmt, was iſt ſie,<lb/>
Tod oder Leben? Wer, wenn er ſein Urtel<lb/><fwplace="bottom"type="sig">M 3</fw><fwplace="bottom"type="catch">uͤber</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[181/0187]
ſich die andaͤchtigen Zuhoͤrer das Leben nah-
men, da Hegeſias die Muͤhſeligkeiten dieſes
Lebens beſchrieb. Die Freude des Lebens, iſt
ſie mehr, als leidlicher Schmerz, als weiner-
liche Luſt? Wir begruͤſten die Welt mit Thraͤ-
nen und wahrlich: Lachen, du biſt toll! He-
geſias, du hatteſt halbe Arbeit, deine Zuhoͤ-
rer waren ſchon vor deiner Rede uͤberzeugt!
Weit mehr iſts bedenklich, daß ſich eine le-
bendige Seele uͤber ein Buch, das ein Chriſt
von der andern Welt geſchrieben hatte, das
Lebenslicht ausblies. War es Neugier? Die
Neugier iſt, wenn ich nicht irre, von dieſer
Welt. Die Vernunft zeigt den Tod als was
wuͤnſchenswuͤrdiges; die Sinnlichkeit, als ei-
nen Koͤnig der Schrecken. Nicht die viel den-
ken, ſondern die viel thun, verpflichten ſich
mit dem Leben. Der Menſch lebt, die meiſte
Zeit, wie das liebe Vieh, und noch oͤfter ſtirbt
er ſo. Warum? Die Vernunft iſt dem Men-
ſchen gegeben, um Tod und Leben zu wuͤrzen,
und jedem von beyden ſeinen Jahreszeitge-
ſchmack beyzulegen. Sie beſitzt die einfachen
Hausmittel, die uns im Leben und Sterben
wo nicht froh, ſo doch getroſt zu ſeyn lehren.
Die Roͤthe, ſo ſehr ſie einnimmt, was iſt ſie,
Tod oder Leben? Wer, wenn er ſein Urtel
uͤber
M 3
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 3,1. Berlin, 1781, S. 181. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe0301_1781/187>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.