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Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 3,1. Berlin, 1781.

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des Nichtchristen! Du wirst die zitternde Ner-
ven nicht halten, und dem Herzen nicht Luft
zuwehen. -- --

Zwar auch Christus war von Gott ver-
laßen; allein mit Ehren und Schmuck ward
er gekrönet, selbst da er noch am Kreuze hieng.
Sein göttlicher Tod lösete dem Hauptmann
die Zunge zu der Stunde. "Wahrlich, es ist
"ein frommer Mensch und Gottes Sohn ge-
"wesen." Der Christ, wenn er im bösen
Stündlein auf den Gedanken fällt, sein Geist-
faden wird mitreißen, wenn der Lebensfaden
reißt, Gott sey von seinem Geist gewichen,
und dieser sein Geist werde verrauchen, so
wie sein Fleischtheil aufgelöset wird; dann
erscheinet ein Engel und stärket ihn. Wenn
das, was gedichtet wird, keine Möglichkeit
in sich enthält, ists Hirngespinst. Je mehr
Wahrscheinlichkeit aber, je vollkommner das
Gedicht. Wenn der Nichtchrist uns vorwirft,
wir stürben poetisch! -- so laß' er uns diese
heilige Poesie, diesen Schwung. -- Trift die-
ser Schwung nicht näher, als ein geschliffe-
nes Kunstsystem von Hofnung? Ist die gan-
ze Hofnung mehr, oder weniger, als Dicht-
kunst? --

Der Christ, entzückt in den Himmel, hört

unaus-

des Nichtchriſten! Du wirſt die zitternde Ner-
ven nicht halten, und dem Herzen nicht Luft
zuwehen. — —

Zwar auch Chriſtus war von Gott ver-
laßen; allein mit Ehren und Schmuck ward
er gekroͤnet, ſelbſt da er noch am Kreuze hieng.
Sein goͤttlicher Tod loͤſete dem Hauptmann
die Zunge zu der Stunde. „Wahrlich, es iſt
„ein frommer Menſch und Gottes Sohn ge-
„weſen.“ Der Chriſt, wenn er im boͤſen
Stuͤndlein auf den Gedanken faͤllt, ſein Geiſt-
faden wird mitreißen, wenn der Lebensfaden
reißt, Gott ſey von ſeinem Geiſt gewichen,
und dieſer ſein Geiſt werde verrauchen, ſo
wie ſein Fleiſchtheil aufgeloͤſet wird; dann
erſcheinet ein Engel und ſtaͤrket ihn. Wenn
das, was gedichtet wird, keine Moͤglichkeit
in ſich enthaͤlt, iſts Hirngeſpinſt. Je mehr
Wahrſcheinlichkeit aber, je vollkommner das
Gedicht. Wenn der Nichtchriſt uns vorwirft,
wir ſtuͤrben poetiſch! — ſo laß’ er uns dieſe
heilige Poeſie, dieſen Schwung. — Trift die-
ſer Schwung nicht naͤher, als ein geſchliffe-
nes Kunſtſyſtem von Hofnung? Iſt die gan-
ze Hofnung mehr, oder weniger, als Dicht-
kunſt? —

Der Chriſt, entzuͤckt in den Himmel, hoͤrt

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[210/0216] des Nichtchriſten! Du wirſt die zitternde Ner- ven nicht halten, und dem Herzen nicht Luft zuwehen. — — Zwar auch Chriſtus war von Gott ver- laßen; allein mit Ehren und Schmuck ward er gekroͤnet, ſelbſt da er noch am Kreuze hieng. Sein goͤttlicher Tod loͤſete dem Hauptmann die Zunge zu der Stunde. „Wahrlich, es iſt „ein frommer Menſch und Gottes Sohn ge- „weſen.“ Der Chriſt, wenn er im boͤſen Stuͤndlein auf den Gedanken faͤllt, ſein Geiſt- faden wird mitreißen, wenn der Lebensfaden reißt, Gott ſey von ſeinem Geiſt gewichen, und dieſer ſein Geiſt werde verrauchen, ſo wie ſein Fleiſchtheil aufgeloͤſet wird; dann erſcheinet ein Engel und ſtaͤrket ihn. Wenn das, was gedichtet wird, keine Moͤglichkeit in ſich enthaͤlt, iſts Hirngeſpinſt. Je mehr Wahrſcheinlichkeit aber, je vollkommner das Gedicht. Wenn der Nichtchriſt uns vorwirft, wir ſtuͤrben poetiſch! — ſo laß’ er uns dieſe heilige Poeſie, dieſen Schwung. — Trift die- ſer Schwung nicht naͤher, als ein geſchliffe- nes Kunſtſyſtem von Hofnung? Iſt die gan- ze Hofnung mehr, oder weniger, als Dicht- kunſt? — Der Chriſt, entzuͤckt in den Himmel, hoͤrt unaus-

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Zitationshilfe: Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie. Bd. 3,1. Berlin, 1781, S. 210. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hippel_lebenslaeufe0301_1781/216>, abgerufen am 21.11.2024.