Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Hoffmann, E. T. A.]: Nachtstücke. Bd. 1. Berlin, 1817.

Bild:
<< vorherige Seite

Gedächtniß entschwunden, er lebte nur für Olim¬
pia, bei der er täglich Stundenlang saß und
von seiner Liebe, von zum Leben erglühter Sym¬
pathie, von psychischer Wahlverwandtschaft fanta¬
sirte, welches alles Olimpia mit großer Andacht
anhörte. Aus dem tiefsten Grunde des Schreib¬
pults holte Nathanael alles hervor, was er
jemals geschrieben. Gedichte, Fantasien, Visionen,
Romane, Erzählungen, das wurde täglich ver¬
mehrt mit allerlei ins Blaue fliegenden Sonnet¬
ten, Stanzen, Canzonen, und das alles las er
der Olimpia Stundenlang hinter einander vor,
ohne zu ermüden. Aber auch noch nie hatte er
eine solche herrliche Zuhörerin gehabt. Sie stickte
und strickte nicht, sie sah' nicht durch's Fenster,
sie fütterte keinen Vogel, sie spielte mit keinem
Schooshündchen, mit keiner Lieblingskatze, sie
drehte kein Papierschnitzchen, oder sonst etwas in
der Hand, sie durfte kein Gähnen durch einen
leisen erzwungenen Husten bezwingen -- Kurz! --
Stundenlang sah sie mit starrem Blick unver¬

E 2

Gedaͤchtniß entſchwunden, er lebte nur fuͤr Olim¬
pia, bei der er taͤglich Stundenlang ſaß und
von ſeiner Liebe, von zum Leben ergluͤhter Sym¬
pathie, von pſychiſcher Wahlverwandtſchaft fanta¬
ſirte, welches alles Olimpia mit großer Andacht
anhoͤrte. Aus dem tiefſten Grunde des Schreib¬
pults holte Nathanael alles hervor, was er
jemals geſchrieben. Gedichte, Fantaſien, Viſionen,
Romane, Erzaͤhlungen, das wurde taͤglich ver¬
mehrt mit allerlei ins Blaue fliegenden Sonnet¬
ten, Stanzen, Canzonen, und das alles las er
der Olimpia Stundenlang hinter einander vor,
ohne zu ermuͤden. Aber auch noch nie hatte er
eine ſolche herrliche Zuhoͤrerin gehabt. Sie ſtickte
und ſtrickte nicht, ſie ſah' nicht durch's Fenſter,
ſie fuͤtterte keinen Vogel, ſie ſpielte mit keinem
Schooshuͤndchen, mit keiner Lieblingskatze, ſie
drehte kein Papierſchnitzchen, oder ſonſt etwas in
der Hand, ſie durfte kein Gaͤhnen durch einen
leiſen erzwungenen Huſten bezwingen — Kurz! —
Stundenlang ſah ſie mit ſtarrem Blick unver¬

E 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0075" n="67"/>
Geda&#x0364;chtniß ent&#x017F;chwunden, er lebte nur fu&#x0364;r <hi rendition="#g">Olim</hi>¬<lb/><hi rendition="#g">pia</hi>, bei der er ta&#x0364;glich Stundenlang &#x017F;aß und<lb/>
von &#x017F;einer Liebe, von zum Leben erglu&#x0364;hter Sym¬<lb/>
pathie, von p&#x017F;ychi&#x017F;cher Wahlverwandt&#x017F;chaft fanta¬<lb/>
&#x017F;irte, welches alles <hi rendition="#g">Olimpia</hi> mit großer Andacht<lb/>
anho&#x0364;rte. Aus dem tief&#x017F;ten Grunde des Schreib¬<lb/>
pults holte <hi rendition="#g">Nathanael</hi> alles hervor, was er<lb/>
jemals ge&#x017F;chrieben. Gedichte, Fanta&#x017F;ien, Vi&#x017F;ionen,<lb/>
Romane, Erza&#x0364;hlungen, das wurde ta&#x0364;glich ver¬<lb/>
mehrt mit allerlei ins Blaue fliegenden Sonnet¬<lb/>
ten, Stanzen, Canzonen, und das alles las er<lb/>
der <hi rendition="#g">Olimpia</hi> Stundenlang hinter einander vor,<lb/>
ohne zu ermu&#x0364;den. Aber auch noch nie hatte er<lb/>
eine &#x017F;olche herrliche Zuho&#x0364;rerin gehabt. Sie &#x017F;tickte<lb/>
und &#x017F;trickte nicht, &#x017F;ie &#x017F;ah' nicht durch's Fen&#x017F;ter,<lb/>
&#x017F;ie fu&#x0364;tterte keinen Vogel, &#x017F;ie &#x017F;pielte mit keinem<lb/>
Schooshu&#x0364;ndchen, mit keiner Lieblingskatze, &#x017F;ie<lb/>
drehte kein Papier&#x017F;chnitzchen, oder &#x017F;on&#x017F;t etwas in<lb/>
der Hand, &#x017F;ie durfte kein Ga&#x0364;hnen durch einen<lb/>
lei&#x017F;en erzwungenen Hu&#x017F;ten bezwingen &#x2014; Kurz! &#x2014;<lb/>
Stundenlang &#x017F;ah &#x017F;ie mit &#x017F;tarrem Blick unver¬<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">E 2<lb/></fw>
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[67/0075] Gedaͤchtniß entſchwunden, er lebte nur fuͤr Olim¬ pia, bei der er taͤglich Stundenlang ſaß und von ſeiner Liebe, von zum Leben ergluͤhter Sym¬ pathie, von pſychiſcher Wahlverwandtſchaft fanta¬ ſirte, welches alles Olimpia mit großer Andacht anhoͤrte. Aus dem tiefſten Grunde des Schreib¬ pults holte Nathanael alles hervor, was er jemals geſchrieben. Gedichte, Fantaſien, Viſionen, Romane, Erzaͤhlungen, das wurde taͤglich ver¬ mehrt mit allerlei ins Blaue fliegenden Sonnet¬ ten, Stanzen, Canzonen, und das alles las er der Olimpia Stundenlang hinter einander vor, ohne zu ermuͤden. Aber auch noch nie hatte er eine ſolche herrliche Zuhoͤrerin gehabt. Sie ſtickte und ſtrickte nicht, ſie ſah' nicht durch's Fenſter, ſie fuͤtterte keinen Vogel, ſie ſpielte mit keinem Schooshuͤndchen, mit keiner Lieblingskatze, ſie drehte kein Papierſchnitzchen, oder ſonſt etwas in der Hand, ſie durfte kein Gaͤhnen durch einen leiſen erzwungenen Huſten bezwingen — Kurz! — Stundenlang ſah ſie mit ſtarrem Blick unver¬ E 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/hoffmann_nachtstuecke01_1817
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/hoffmann_nachtstuecke01_1817/75
Zitationshilfe: [Hoffmann, E. T. A.]: Nachtstücke. Bd. 1. Berlin, 1817, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hoffmann_nachtstuecke01_1817/75>, abgerufen am 18.05.2024.