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Holtei, Karl von: Die Vagabunden. Bd. 1. Breslau, 1852.

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Du phantasierst, Großmutter! rief Anton angst-
erfüllt. Und kaum hatte er's gerufen, so drang der
erste Ton des wohlbekannten Todtengeläutes durch
die Seufzer des Regensturmes.

Das ist wirklich und wahrhaftig die Sterbeglocke!?
sprach er.

"Onkel Nasus ist todt!" sagte die Alte.

Arme Tieletunke! fügte Anton hinzu. Die Tur-
teltaube stieß ein ängstliches Gurren aus.

Die Glocken bebten fort, stärker oder schwächer,
je nachdem der wechselnde Wind sich wendete.

"Der Wind springt auch herum, wie wenn er
nicht wüßte, was mit ihm werden soll. Aber bald
setzt er sich fest, im Morgen; das spür' ich an meinen
Gliedern. Dann haben wir helles, klares Wetter.
Morgen den ganzen Tag. Und dann einen schönen
reinen Herbstabend. Einen schönen Abend, mein
Anton, mit buntem Blätterwerk, wie gemalt. Roth-
kehlchen, Schneekönige und Blaumeisen in den
Sträuchern. Ach, wie sanft wird sich's da sterben!
Weine nicht, Anton! Jch will mein Lieblingslied
beten, vom alten Benjamin Schmolck, den Deines
Großvaters Vater als Schüler in Schweidnitz noch
gekannt, den er mit zu Grabe getragen hat. Deinem

Du phantaſierſt, Großmutter! rief Anton angſt-
erfuͤllt. Und kaum hatte er’s gerufen, ſo drang der
erſte Ton des wohlbekannten Todtengelaͤutes durch
die Seufzer des Regenſturmes.

Das iſt wirklich und wahrhaftig die Sterbeglocke!?
ſprach er.

„Onkel Naſus iſt todt!“ ſagte die Alte.

Arme Tieletunke! fuͤgte Anton hinzu. Die Tur-
teltaube ſtieß ein aͤngſtliches Gurren aus.

Die Glocken bebten fort, ſtaͤrker oder ſchwaͤcher,
je nachdem der wechſelnde Wind ſich wendete.

„Der Wind ſpringt auch herum, wie wenn er
nicht wuͤßte, was mit ihm werden ſoll. Aber bald
ſetzt er ſich feſt, im Morgen; das ſpuͤr’ ich an meinen
Gliedern. Dann haben wir helles, klares Wetter.
Morgen den ganzen Tag. Und dann einen ſchoͤnen
reinen Herbſtabend. Einen ſchoͤnen Abend, mein
Anton, mit buntem Blaͤtterwerk, wie gemalt. Roth-
kehlchen, Schneekoͤnige und Blaumeiſen in den
Straͤuchern. Ach, wie ſanft wird ſich’s da ſterben!
Weine nicht, Anton! Jch will mein Lieblingslied
beten, vom alten Benjamin Schmolck, den Deines
Großvaters Vater als Schuͤler in Schweidnitz noch
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[196/0212] Du phantaſierſt, Großmutter! rief Anton angſt- erfuͤllt. Und kaum hatte er’s gerufen, ſo drang der erſte Ton des wohlbekannten Todtengelaͤutes durch die Seufzer des Regenſturmes. Das iſt wirklich und wahrhaftig die Sterbeglocke!? ſprach er. „Onkel Naſus iſt todt!“ ſagte die Alte. Arme Tieletunke! fuͤgte Anton hinzu. Die Tur- teltaube ſtieß ein aͤngſtliches Gurren aus. Die Glocken bebten fort, ſtaͤrker oder ſchwaͤcher, je nachdem der wechſelnde Wind ſich wendete. „Der Wind ſpringt auch herum, wie wenn er nicht wuͤßte, was mit ihm werden ſoll. Aber bald ſetzt er ſich feſt, im Morgen; das ſpuͤr’ ich an meinen Gliedern. Dann haben wir helles, klares Wetter. Morgen den ganzen Tag. Und dann einen ſchoͤnen reinen Herbſtabend. Einen ſchoͤnen Abend, mein Anton, mit buntem Blaͤtterwerk, wie gemalt. Roth- kehlchen, Schneekoͤnige und Blaumeiſen in den Straͤuchern. Ach, wie ſanft wird ſich’s da ſterben! Weine nicht, Anton! Jch will mein Lieblingslied beten, vom alten Benjamin Schmolck, den Deines Großvaters Vater als Schuͤler in Schweidnitz noch gekannt, den er mit zu Grabe getragen hat. Deinem

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Zitationshilfe: Holtei, Karl von: Die Vagabunden. Bd. 1. Breslau, 1852, S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/holtei_vagabunden01_1852/212>, abgerufen am 21.11.2024.