Holz, Arno: Das Buch der Zeit. Lieder eines Modernen. Zürich, 1886.Betäubend dufteten die Kressen, Grüngolden floß das Licht herein; Es war ein seliges Vergessen, Vergessen und Vergessensein! Der Lenzwind ließ die Aeste knarren, Vom Dorf herüber klang die Uhr, Ich lag begraben unter Farren Und stammelte: "Natur! Natur! In alten Büchern steht geschrieben, Du bist ein Weib, ein schönes Weib; Ich bin ein Mensch und muß dich lieben, Denn diese Erde ist dein Leib! Weh, jenem bleichen Nazarener! Er stieß dich kalt von deinem Thron! Ich aber bin so gut wie jener Der Gottheit eingeborner Sohn! Ich will nicht mönchisch dich zergeißeln --
Her, deinen Freudenthränenwein! Ich will dein Bild in Feuer meißeln Und Vollmensch wie ein Grieche sein! Betäubend dufteten die Kreſſen, Grüngolden floß das Licht herein; Es war ein ſeliges Vergeſſen, Vergeſſen und Vergeſſenſein! Der Lenzwind ließ die Aeſte knarren, Vom Dorf herüber klang die Uhr, Ich lag begraben unter Farren Und ſtammelte: „Natur! Natur! In alten Büchern ſteht geſchrieben, Du biſt ein Weib, ein ſchönes Weib; Ich bin ein Menſch und muß dich lieben, Denn dieſe Erde iſt dein Leib! Weh, jenem bleichen Nazarener! Er ſtieß dich kalt von deinem Thron! Ich aber bin ſo gut wie jener Der Gottheit eingeborner Sohn! Ich will nicht mönchiſch dich zergeißeln —
Her, deinen Freudenthränenwein! Ich will dein Bild in Feuer meißeln Und Vollmenſch wie ein Grieche ſein! <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <lg type="poem"> <pb facs="#f0275" n="253"/> <lg n="4"> <l>Betäubend dufteten die Kreſſen,</l><lb/> <l>Grüngolden floß das Licht herein;</l><lb/> <l>Es war ein ſeliges Vergeſſen,</l><lb/> <l>Vergeſſen und Vergeſſenſein!</l><lb/> </lg> <lg n="5"> <l>Der Lenzwind ließ die Aeſte knarren,</l><lb/> <l>Vom Dorf herüber klang die Uhr,</l><lb/> <l>Ich lag begraben unter Farren</l><lb/> <l>Und ſtammelte: „Natur! Natur!</l><lb/> </lg> <lg n="6"> <l>In alten Büchern ſteht geſchrieben,</l><lb/> <l>Du biſt ein Weib, ein ſchönes Weib;</l><lb/> <l>Ich bin ein Menſch und muß dich lieben,</l><lb/> <l>Denn dieſe Erde iſt dein Leib!</l><lb/> </lg> <lg n="7"> <l>Weh, jenem bleichen Nazarener!</l><lb/> <l>Er ſtieß dich kalt von deinem Thron!</l><lb/> <l>Ich aber bin ſo gut wie jener</l><lb/> <l>Der Gottheit eingeborner Sohn!</l><lb/> </lg> <lg n="8"> <l>Ich will nicht mönchiſch dich zergeißeln —</l><lb/> <l>Her, deinen Freudenthränenwein!</l><lb/> <l>Ich will dein Bild in Feuer meißeln</l><lb/> <l>Und Vollmenſch wie ein Grieche ſein!</l><lb/> </lg> </lg> </div> </div> </body> </text> </TEI> [253/0275]
Betäubend dufteten die Kreſſen,
Grüngolden floß das Licht herein;
Es war ein ſeliges Vergeſſen,
Vergeſſen und Vergeſſenſein!
Der Lenzwind ließ die Aeſte knarren,
Vom Dorf herüber klang die Uhr,
Ich lag begraben unter Farren
Und ſtammelte: „Natur! Natur!
In alten Büchern ſteht geſchrieben,
Du biſt ein Weib, ein ſchönes Weib;
Ich bin ein Menſch und muß dich lieben,
Denn dieſe Erde iſt dein Leib!
Weh, jenem bleichen Nazarener!
Er ſtieß dich kalt von deinem Thron!
Ich aber bin ſo gut wie jener
Der Gottheit eingeborner Sohn!
Ich will nicht mönchiſch dich zergeißeln —
Her, deinen Freudenthränenwein!
Ich will dein Bild in Feuer meißeln
Und Vollmenſch wie ein Grieche ſein!
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