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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Übers. v. Hermann Hauff. Bd. 1. Stuttgart, 1859.

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besondere Gründe; religiöses Gefühl zieht sie zu einem Stern-
bild hin, dessen Gestalt an das Wahrzeichen des Glaubens
mahnt, das ihre Väter in den Einöden der Neuen Welt auf-
gepflanzt.

Da die zwei großen Sterne, welche Spitze und Fuß des
Kreuzes bezeichnen, ungefähr dieselbe Rektaßension haben, so
muß das Sternbild, wenn es durch den Meridian geht, fast
senkrecht stehen. Dieser Umstand ist allen Völkern jenseits
des Wendekreises und in der südlichen Halbkugel bekannt.
Man hat sich gemerkt, zu welcher Zeit bei Nacht in den ver-
schiedenen Jahreszeiten das südliche Kreuz aufrecht oder geneigt
ist. Es ist eine Uhr, die sehr regelmäßig etwa vier Minuten
im Tage vorgeht, und an keiner anderen Sterngruppe läßt sich
die Zeit mit bloßem Auge so genau beobachten. Wie oft
haben wir unsere Führer in den Savannen von Venezuela
oder in der Wüste zwischen Lima und Truxillo sagen hören:
"Mitternacht ist vorüber, das Kreuz fängt an sich zu neigen!"
Wie oft haben wir uns bei diesen Worten an den rührenden
Auftritt erinnert, wo Paul und Virginie an der Quelle des
Fächerpalmenflusses zum letztenmal miteinander sprechen und
der Greis beim Anblick des südlichen Kreuzes sie mahnt, daß
es Zeit sei zu scheiden!

Die letzten Tage unserer Ueberfahrt waren nicht so günstig,
als das milde Klima und die ruhige See uns hoffen ließen.
Nicht die Gefahren der See störten uns in unserem Genusse,
aber der Keim eines bösartigen Fiebers entwickelte sich unter
uns, je näher wir den Antillen kamen. Im Zwischendeck war
es furchtbar heiß und der Raum sehr beschränkt. Seit wir
den Wendekreis überschritten, stand der Thermometer auf 34
bis 36°. Zwei Matrosen, mehrere Passagiere und, was ziem-
lich auffallend ist, zwei Neger von der Küste von Guinea und
ein Mulattenkind wurden von einer Krankheit befallen, die
epidemisch zu werden drohte. Die Symptome waren nicht bei
allen Kranken gleich bedenklich; mehrere aber, und gerade die
kräftigsten, delirierten schon am zweiten Tage und die Kräfte
lagen völlig danieder. Bei der Gleichgültigkeit, mit der an
Bord der Paketboote alles behandelt wird, was mit der Füh-
rung des Schiffes und der Schnelligkeit der Ueberfahrt nichts
zu thun hat, dachte der Kapitän nicht daran, gegen die Ge-
fahr, die uns bedrohte, die gemeinsten Mittel vorzukehren.
Es wurde nicht geräuchert, und ein unwissender, phlegmatischer
galicischer Wundarzt verordnete Aderlässe, weil er das Fieber

beſondere Gründe; religiöſes Gefühl zieht ſie zu einem Stern-
bild hin, deſſen Geſtalt an das Wahrzeichen des Glaubens
mahnt, das ihre Väter in den Einöden der Neuen Welt auf-
gepflanzt.

Da die zwei großen Sterne, welche Spitze und Fuß des
Kreuzes bezeichnen, ungefähr dieſelbe Rektaſzenſion haben, ſo
muß das Sternbild, wenn es durch den Meridian geht, faſt
ſenkrecht ſtehen. Dieſer Umſtand iſt allen Völkern jenſeits
des Wendekreiſes und in der ſüdlichen Halbkugel bekannt.
Man hat ſich gemerkt, zu welcher Zeit bei Nacht in den ver-
ſchiedenen Jahreszeiten das ſüdliche Kreuz aufrecht oder geneigt
iſt. Es iſt eine Uhr, die ſehr regelmäßig etwa vier Minuten
im Tage vorgeht, und an keiner anderen Sterngruppe läßt ſich
die Zeit mit bloßem Auge ſo genau beobachten. Wie oft
haben wir unſere Führer in den Savannen von Venezuela
oder in der Wüſte zwiſchen Lima und Truxillo ſagen hören:
„Mitternacht iſt vorüber, das Kreuz fängt an ſich zu neigen!“
Wie oft haben wir uns bei dieſen Worten an den rührenden
Auftritt erinnert, wo Paul und Virginie an der Quelle des
Fächerpalmenfluſſes zum letztenmal miteinander ſprechen und
der Greis beim Anblick des ſüdlichen Kreuzes ſie mahnt, daß
es Zeit ſei zu ſcheiden!

Die letzten Tage unſerer Ueberfahrt waren nicht ſo günſtig,
als das milde Klima und die ruhige See uns hoffen ließen.
Nicht die Gefahren der See ſtörten uns in unſerem Genuſſe,
aber der Keim eines bösartigen Fiebers entwickelte ſich unter
uns, je näher wir den Antillen kamen. Im Zwiſchendeck war
es furchtbar heiß und der Raum ſehr beſchränkt. Seit wir
den Wendekreis überſchritten, ſtand der Thermometer auf 34
bis 36°. Zwei Matroſen, mehrere Paſſagiere und, was ziem-
lich auffallend iſt, zwei Neger von der Küſte von Guinea und
ein Mulattenkind wurden von einer Krankheit befallen, die
epidemiſch zu werden drohte. Die Symptome waren nicht bei
allen Kranken gleich bedenklich; mehrere aber, und gerade die
kräftigſten, delirierten ſchon am zweiten Tage und die Kräfte
lagen völlig danieder. Bei der Gleichgültigkeit, mit der an
Bord der Paketboote alles behandelt wird, was mit der Füh-
rung des Schiffes und der Schnelligkeit der Ueberfahrt nichts
zu thun hat, dachte der Kapitän nicht daran, gegen die Ge-
fahr, die uns bedrohte, die gemeinſten Mittel vorzukehren.
Es wurde nicht geräuchert, und ein unwiſſender, phlegmatiſcher
galiciſcher Wundarzt verordnete Aderläſſe, weil er das Fieber

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[138/0154] beſondere Gründe; religiöſes Gefühl zieht ſie zu einem Stern- bild hin, deſſen Geſtalt an das Wahrzeichen des Glaubens mahnt, das ihre Väter in den Einöden der Neuen Welt auf- gepflanzt. Da die zwei großen Sterne, welche Spitze und Fuß des Kreuzes bezeichnen, ungefähr dieſelbe Rektaſzenſion haben, ſo muß das Sternbild, wenn es durch den Meridian geht, faſt ſenkrecht ſtehen. Dieſer Umſtand iſt allen Völkern jenſeits des Wendekreiſes und in der ſüdlichen Halbkugel bekannt. Man hat ſich gemerkt, zu welcher Zeit bei Nacht in den ver- ſchiedenen Jahreszeiten das ſüdliche Kreuz aufrecht oder geneigt iſt. Es iſt eine Uhr, die ſehr regelmäßig etwa vier Minuten im Tage vorgeht, und an keiner anderen Sterngruppe läßt ſich die Zeit mit bloßem Auge ſo genau beobachten. Wie oft haben wir unſere Führer in den Savannen von Venezuela oder in der Wüſte zwiſchen Lima und Truxillo ſagen hören: „Mitternacht iſt vorüber, das Kreuz fängt an ſich zu neigen!“ Wie oft haben wir uns bei dieſen Worten an den rührenden Auftritt erinnert, wo Paul und Virginie an der Quelle des Fächerpalmenfluſſes zum letztenmal miteinander ſprechen und der Greis beim Anblick des ſüdlichen Kreuzes ſie mahnt, daß es Zeit ſei zu ſcheiden! Die letzten Tage unſerer Ueberfahrt waren nicht ſo günſtig, als das milde Klima und die ruhige See uns hoffen ließen. Nicht die Gefahren der See ſtörten uns in unſerem Genuſſe, aber der Keim eines bösartigen Fiebers entwickelte ſich unter uns, je näher wir den Antillen kamen. Im Zwiſchendeck war es furchtbar heiß und der Raum ſehr beſchränkt. Seit wir den Wendekreis überſchritten, ſtand der Thermometer auf 34 bis 36°. Zwei Matroſen, mehrere Paſſagiere und, was ziem- lich auffallend iſt, zwei Neger von der Küſte von Guinea und ein Mulattenkind wurden von einer Krankheit befallen, die epidemiſch zu werden drohte. Die Symptome waren nicht bei allen Kranken gleich bedenklich; mehrere aber, und gerade die kräftigſten, delirierten ſchon am zweiten Tage und die Kräfte lagen völlig danieder. Bei der Gleichgültigkeit, mit der an Bord der Paketboote alles behandelt wird, was mit der Füh- rung des Schiffes und der Schnelligkeit der Ueberfahrt nichts zu thun hat, dachte der Kapitän nicht daran, gegen die Ge- fahr, die uns bedrohte, die gemeinſten Mittel vorzukehren. Es wurde nicht geräuchert, und ein unwiſſender, phlegmatiſcher galiciſcher Wundarzt verordnete Aderläſſe, weil er das Fieber

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Übers. v. Hermann Hauff. Bd. 1. Stuttgart, 1859, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial01_1859/154>, abgerufen am 21.11.2024.