vorrat getragen hatte; da er uns nicht kommen sah, war er unruhig geworden und uns entgegengegangen. Er führte uns durch ein Gebüsch von Fackeldisteln zu der Hütte einer indianischen Familie. Wir wurden mit der herzlichen Gast- freundschaft aufgenommen, die man in diesen Ländern bei Menschen aller Kasten findet. Von außen war die Hütte, in der wir unsere Hängematten befestigten, sehr sauber; wir fanden daselbst Fische, Bananen u. dgl., und, was im heißen Landstrich über die ausgesuchtesten Speisen geht, vortreffliches Wasser.
Des anderen Tages bei Sonnenaufgang sahen wir, daß die Hütte, in der wir die Nacht zugebracht, zu einem Haufen kleiner Wohnungen am Ufer des Salzsees gehörte. Es sind dies die schwachen Ueberbleibsel eines ansehnlichen Dorfes, das sich einst um das Schloß gebildet. Die Trümmer einer Kirche waren halb im Sand begraben und mit Strauchwerk bewachsen. Nachdem im Jahre 1762 das Schloß von Araya, um die Unterhaltungskosten der Besatzung zu ersparen, gänz- lich zerstört worden war, zogen sich die in der Umgegend angesiedelten Indianer und Farbigen allmählich nach Mani- quarez, Cariaco und in die indianische Vorstadt von Cu- mana. Nur wenige blieben aus Anhänglichkeit an den Heimatsboden am wilden, öden Ort. Diese armen Leute leben vom Fischfang, der an den Küsten und auf den Untiefen in der Nähe äußerst ergiebig ist. Sie schienen mit ihrem Los zufrieden und fanden die Frage seltsam, warum sie keine Gärten hätten und keine nutzbaren Gewächse bauten. "Unsere Gärten," sagten sie, "sind drüben über der Meerenge; wir bringen Fische nach Cumana und verschaffen uns dafür Ba- nanen, Kokosnüsse und Manioc." Diese Wirtschaft, die der Trägheit zusagt, ist in Maniquarez und auf der ganzen Halb- insel Araya Brauch. Der Hauptreichtum der Einwohner be- steht in Ziegen, die sehr groß und schön sind. Sie laufen frei umher, wie die Ziegen auf dem Pik von Tenerifa; sie sind völlig verwildert und man zeichnet sie wie die Maul- tiere, weil sie nach Aussehen, Farbe und Zeichnung nicht zu unterscheiden wären. Die wilden Ziegen sind hellbraun und nicht verschiedenfarbig wie die zahmen. Wenn ein Kolonist auf der Jagd eine Ziege schießt, die er nicht als sein Eigen- tum erkennt, so bringt er sie sogleich dem Nachbar, dem sie gehört. Zwei Tage lang hörten wir als von einer selten vorkommenden Niederträchtigkeit davon sprechen, daß einem
vorrat getragen hatte; da er uns nicht kommen ſah, war er unruhig geworden und uns entgegengegangen. Er führte uns durch ein Gebüſch von Fackeldiſteln zu der Hütte einer indianiſchen Familie. Wir wurden mit der herzlichen Gaſt- freundſchaft aufgenommen, die man in dieſen Ländern bei Menſchen aller Kaſten findet. Von außen war die Hütte, in der wir unſere Hängematten befeſtigten, ſehr ſauber; wir fanden daſelbſt Fiſche, Bananen u. dgl., und, was im heißen Landſtrich über die ausgeſuchteſten Speiſen geht, vortreffliches Waſſer.
Des anderen Tages bei Sonnenaufgang ſahen wir, daß die Hütte, in der wir die Nacht zugebracht, zu einem Haufen kleiner Wohnungen am Ufer des Salzſees gehörte. Es ſind dies die ſchwachen Ueberbleibſel eines anſehnlichen Dorfes, das ſich einſt um das Schloß gebildet. Die Trümmer einer Kirche waren halb im Sand begraben und mit Strauchwerk bewachſen. Nachdem im Jahre 1762 das Schloß von Araya, um die Unterhaltungskoſten der Beſatzung zu erſparen, gänz- lich zerſtört worden war, zogen ſich die in der Umgegend angeſiedelten Indianer und Farbigen allmählich nach Mani- quarez, Cariaco und in die indianiſche Vorſtadt von Cu- mana. Nur wenige blieben aus Anhänglichkeit an den Heimatsboden am wilden, öden Ort. Dieſe armen Leute leben vom Fiſchfang, der an den Küſten und auf den Untiefen in der Nähe äußerſt ergiebig iſt. Sie ſchienen mit ihrem Los zufrieden und fanden die Frage ſeltſam, warum ſie keine Gärten hätten und keine nutzbaren Gewächſe bauten. „Unſere Gärten,“ ſagten ſie, „ſind drüben über der Meerenge; wir bringen Fiſche nach Cumana und verſchaffen uns dafür Ba- nanen, Kokosnüſſe und Manioc.“ Dieſe Wirtſchaft, die der Trägheit zuſagt, iſt in Maniquarez und auf der ganzen Halb- inſel Araya Brauch. Der Hauptreichtum der Einwohner be- ſteht in Ziegen, die ſehr groß und ſchön ſind. Sie laufen frei umher, wie die Ziegen auf dem Pik von Tenerifa; ſie ſind völlig verwildert und man zeichnet ſie wie die Maul- tiere, weil ſie nach Ausſehen, Farbe und Zeichnung nicht zu unterſcheiden wären. Die wilden Ziegen ſind hellbraun und nicht verſchiedenfarbig wie die zahmen. Wenn ein Koloniſt auf der Jagd eine Ziege ſchießt, die er nicht als ſein Eigen- tum erkennt, ſo bringt er ſie ſogleich dem Nachbar, dem ſie gehört. Zwei Tage lang hörten wir als von einer ſelten vorkommenden Niederträchtigkeit davon ſprechen, daß einem
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vorrat getragen hatte; da er uns nicht kommen ſah, war er
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uns durch ein Gebüſch von Fackeldiſteln zu der Hütte einer
indianiſchen Familie. Wir wurden mit der herzlichen Gaſt-
freundſchaft aufgenommen, die man in dieſen Ländern bei
Menſchen aller Kaſten findet. Von außen war die Hütte, in
der wir unſere Hängematten befeſtigten, ſehr ſauber; wir
fanden daſelbſt Fiſche, Bananen u. dgl., und, was im heißen
Landſtrich über die ausgeſuchteſten Speiſen geht, vortreffliches
Waſſer.
Des anderen Tages bei Sonnenaufgang ſahen wir, daß
die Hütte, in der wir die Nacht zugebracht, zu einem Haufen
kleiner Wohnungen am Ufer des Salzſees gehörte. Es ſind
dies die ſchwachen Ueberbleibſel eines anſehnlichen Dorfes,
das ſich einſt um das Schloß gebildet. Die Trümmer einer
Kirche waren halb im Sand begraben und mit Strauchwerk
bewachſen. Nachdem im Jahre 1762 das Schloß von Araya,
um die Unterhaltungskoſten der Beſatzung zu erſparen, gänz-
lich zerſtört worden war, zogen ſich die in der Umgegend
angeſiedelten Indianer und Farbigen allmählich nach Mani-
quarez, Cariaco und in die indianiſche Vorſtadt von Cu-
mana. Nur wenige blieben aus Anhänglichkeit an den
Heimatsboden am wilden, öden Ort. Dieſe armen Leute
leben vom Fiſchfang, der an den Küſten und auf den Untiefen
in der Nähe äußerſt ergiebig iſt. Sie ſchienen mit ihrem Los
zufrieden und fanden die Frage ſeltſam, warum ſie keine
Gärten hätten und keine nutzbaren Gewächſe bauten. „Unſere
Gärten,“ ſagten ſie, „ſind drüben über der Meerenge; wir
bringen Fiſche nach Cumana und verſchaffen uns dafür Ba-
nanen, Kokosnüſſe und Manioc.“ Dieſe Wirtſchaft, die der
Trägheit zuſagt, iſt in Maniquarez und auf der ganzen Halb-
inſel Araya Brauch. Der Hauptreichtum der Einwohner be-
ſteht in Ziegen, die ſehr groß und ſchön ſind. Sie laufen
frei umher, wie die Ziegen auf dem Pik von Tenerifa; ſie
ſind völlig verwildert und man zeichnet ſie wie die Maul-
tiere, weil ſie nach Ausſehen, Farbe und Zeichnung nicht zu
unterſcheiden wären. Die wilden Ziegen ſind hellbraun und
nicht verſchiedenfarbig wie die zahmen. Wenn ein Koloniſt
auf der Jagd eine Ziege ſchießt, die er nicht als ſein Eigen-
tum erkennt, ſo bringt er ſie ſogleich dem Nachbar, dem ſie
gehört. Zwei Tage lang hörten wir als von einer ſelten
vorkommenden Niederträchtigkeit davon ſprechen, daß einem
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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Übers. v. Hermann Hauff. Bd. 1. Stuttgart, 1859, S. 198. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial01_1859/214>, abgerufen am 26.06.2024.
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