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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859.

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ganze Völkerschaft ein Band schlingt, hat die Sprache der
Indianer, die in den Missionen geboren sind oder erst nach
ihrer Aufnahme aus den Wäldern spanisch gelernt haben,
einen naiven Ausdruck. Wenn sie von Leuten sprechen, die
zum selben Stamme gehören, sagen sie mis parientes, meine
Verwandten.

Zu diesen Ursachen, die sich nur auf die Vereinzelung
beziehen, deren Einfluß sich ja auch bei den europäischen Juden,
bei den indischen Kasten und allen Gebirgsvölkern bemerklich
macht, kommen nun noch andere, bisher weniger beachtete.
Ich habe schon früher bemerkt, daß es vorzüglich die Geistes-
bildung ist, was Menschengesichter voneinander verschieden
macht. Barbarische Nationen haben viel mehr eine Stamm-
oder Hordenphysiognomie, als eine, die diesem oder jenem
Individuum zukäme. Der wilde Mensch verhält sich hierin
dem gebildeten gegenüber wie die Tiere einer und derselben
Art, die zum Teil in der Wildnis leben, während die anderen
in der Umgebung des Menschen gleichsam an den Segnungen
und den Uebeln der Kultur teilnehmen. Abweichungen in
Körperbau und Farbe kommen nur bei den Haustieren häufig
vor. Welcher Abstand, was Beweglichkeit der Züge und mannig-
faltigen physiognomischen Ausdruck betrifft, zwischen den Hun-
den, die in der Neuen Welt wieder verwildert sind, und den
Hunden in einem wohlhabenden Hause, deren geringste Launen
man befriedigt! Beim Menschen und bei den Tieren spiegeln
sich die Regungen der Seele in den Zügen ab, und die Züge
werden desto beweglicher, je häufiger, mannigfaltiger und an-
dauernder die Empfindungen sind. Aber der Indianer in
den Missionen, von aller Kultur abgeschnitten, wird allein
vom physischen Bedürfnis bestimmt, und da er dieses im herr-
lichen Klima fast mühelos befriedigt, führt er ein träges, ein-
förmiges Leben. Unter den Gemeindegliedern herrscht die
vollkommenste Gleichheit, und diese Einförmigkeit, diese Starr-
heit der Verhältnisse drückt sich auch in den Gesichtszügen
der Indianer aus.

Unter der Zucht der Mönche wandeln heftige Leiden-
schaften, wie Groll und Zorn, den Eingeborenen ungleich
seltener an, als wenn er in den Wäldern lebt. Wenn der
wilde Mensch sich raschen, heftigen Gemütsbewegungen über-
läßt, so wird sein bis dahin ruhiges, starres Gesicht auf ein-
mal krampfhaft verzerrt; aber seine Aufregung geht um so
rascher vorüber, je stärker sie ist. Beim Indianer in den

ganze Völkerſchaft ein Band ſchlingt, hat die Sprache der
Indianer, die in den Miſſionen geboren ſind oder erſt nach
ihrer Aufnahme aus den Wäldern ſpaniſch gelernt haben,
einen naiven Ausdruck. Wenn ſie von Leuten ſprechen, die
zum ſelben Stamme gehören, ſagen ſie mis parientes, meine
Verwandten.

Zu dieſen Urſachen, die ſich nur auf die Vereinzelung
beziehen, deren Einfluß ſich ja auch bei den europäiſchen Juden,
bei den indiſchen Kaſten und allen Gebirgsvölkern bemerklich
macht, kommen nun noch andere, bisher weniger beachtete.
Ich habe ſchon früher bemerkt, daß es vorzüglich die Geiſtes-
bildung iſt, was Menſchengeſichter voneinander verſchieden
macht. Barbariſche Nationen haben viel mehr eine Stamm-
oder Hordenphyſiognomie, als eine, die dieſem oder jenem
Individuum zukäme. Der wilde Menſch verhält ſich hierin
dem gebildeten gegenüber wie die Tiere einer und derſelben
Art, die zum Teil in der Wildnis leben, während die anderen
in der Umgebung des Menſchen gleichſam an den Segnungen
und den Uebeln der Kultur teilnehmen. Abweichungen in
Körperbau und Farbe kommen nur bei den Haustieren häufig
vor. Welcher Abſtand, was Beweglichkeit der Züge und mannig-
faltigen phyſiognomiſchen Ausdruck betrifft, zwiſchen den Hun-
den, die in der Neuen Welt wieder verwildert ſind, und den
Hunden in einem wohlhabenden Hauſe, deren geringſte Launen
man befriedigt! Beim Menſchen und bei den Tieren ſpiegeln
ſich die Regungen der Seele in den Zügen ab, und die Züge
werden deſto beweglicher, je häufiger, mannigfaltiger und an-
dauernder die Empfindungen ſind. Aber der Indianer in
den Miſſionen, von aller Kultur abgeſchnitten, wird allein
vom phyſiſchen Bedürfnis beſtimmt, und da er dieſes im herr-
lichen Klima faſt mühelos befriedigt, führt er ein träges, ein-
förmiges Leben. Unter den Gemeindegliedern herrſcht die
vollkommenſte Gleichheit, und dieſe Einförmigkeit, dieſe Starr-
heit der Verhältniſſe drückt ſich auch in den Geſichtszügen
der Indianer aus.

Unter der Zucht der Mönche wandeln heftige Leiden-
ſchaften, wie Groll und Zorn, den Eingeborenen ungleich
ſeltener an, als wenn er in den Wäldern lebt. Wenn der
wilde Menſch ſich raſchen, heftigen Gemütsbewegungen über-
läßt, ſo wird ſein bis dahin ruhiges, ſtarres Geſicht auf ein-
mal krampfhaft verzerrt; aber ſeine Aufregung geht um ſo
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[14/0022] ganze Völkerſchaft ein Band ſchlingt, hat die Sprache der Indianer, die in den Miſſionen geboren ſind oder erſt nach ihrer Aufnahme aus den Wäldern ſpaniſch gelernt haben, einen naiven Ausdruck. Wenn ſie von Leuten ſprechen, die zum ſelben Stamme gehören, ſagen ſie mis parientes, meine Verwandten. Zu dieſen Urſachen, die ſich nur auf die Vereinzelung beziehen, deren Einfluß ſich ja auch bei den europäiſchen Juden, bei den indiſchen Kaſten und allen Gebirgsvölkern bemerklich macht, kommen nun noch andere, bisher weniger beachtete. Ich habe ſchon früher bemerkt, daß es vorzüglich die Geiſtes- bildung iſt, was Menſchengeſichter voneinander verſchieden macht. Barbariſche Nationen haben viel mehr eine Stamm- oder Hordenphyſiognomie, als eine, die dieſem oder jenem Individuum zukäme. Der wilde Menſch verhält ſich hierin dem gebildeten gegenüber wie die Tiere einer und derſelben Art, die zum Teil in der Wildnis leben, während die anderen in der Umgebung des Menſchen gleichſam an den Segnungen und den Uebeln der Kultur teilnehmen. Abweichungen in Körperbau und Farbe kommen nur bei den Haustieren häufig vor. Welcher Abſtand, was Beweglichkeit der Züge und mannig- faltigen phyſiognomiſchen Ausdruck betrifft, zwiſchen den Hun- den, die in der Neuen Welt wieder verwildert ſind, und den Hunden in einem wohlhabenden Hauſe, deren geringſte Launen man befriedigt! Beim Menſchen und bei den Tieren ſpiegeln ſich die Regungen der Seele in den Zügen ab, und die Züge werden deſto beweglicher, je häufiger, mannigfaltiger und an- dauernder die Empfindungen ſind. Aber der Indianer in den Miſſionen, von aller Kultur abgeſchnitten, wird allein vom phyſiſchen Bedürfnis beſtimmt, und da er dieſes im herr- lichen Klima faſt mühelos befriedigt, führt er ein träges, ein- förmiges Leben. Unter den Gemeindegliedern herrſcht die vollkommenſte Gleichheit, und dieſe Einförmigkeit, dieſe Starr- heit der Verhältniſſe drückt ſich auch in den Geſichtszügen der Indianer aus. Unter der Zucht der Mönche wandeln heftige Leiden- ſchaften, wie Groll und Zorn, den Eingeborenen ungleich ſeltener an, als wenn er in den Wäldern lebt. Wenn der wilde Menſch ſich raſchen, heftigen Gemütsbewegungen über- läßt, ſo wird ſein bis dahin ruhiges, ſtarres Geſicht auf ein- mal krampfhaft verzerrt; aber ſeine Aufregung geht um ſo raſcher vorüber, je ſtärker ſie iſt. Beim Indianer in den

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial02_1859/22>, abgerufen am 03.12.2024.