auf die Geschichte unserer Gattung beziehen. Das große afrikanische Sandmeer, die wasserlosen Wüsten sind nur von Karawanen besucht, die bis zu 50 Tagen brauchen, sie zu durchziehen. Die Sahara trennt die Völker von Negerbildung von den Stämmen der Araber und Berbern und ist nur in den Oasen bewohnt. Weiden hat sie nur im östlichen Striche, wo als Wirkung der Passatwinde die Sandschicht weniger dick ist, so daß die Quellen zu Tage brechen können. Die Steppen Amerikas sind nicht so breit, nicht so glühend heiß, sie werden von herrlichen Strömen befruchtet und sind so dem Verkehr der Völker weit weniger hinderlich. Die Llanos trennen die Küstenkordillere von Caracas und die Anden von Neugranada von der Waldregion, von jener Hyläa 1 des Ori- noko, die schon bei der Entdeckung Amerikas von Völkern bewohnt war, welche auf einer weit tieferen Stufe der Kultur standen, als die Bewohner der Küsten und vor allen des Ge- birgslandes der Kordilleren. Indessen waren die Steppen einst so wenig eine Schutzmauer der Kultur, als sie gegen- wärtig für die in den Wäldern lebenden Horden eine Schutz- mauer der Freiheit sind. Sie haben die Völker am unteren Orinoko nicht abgehalten, die kleinen Flüsse hinaufzufahren und nach Nord und West Einfälle ins Land zu machen. Hätte es die mannigfaltige Verbreitung der Geschlechter über die Erde mit sich gebracht, daß das Hirtenleben in der Neuen Welt bestehen konnte; hätten vor der Ankunft der Spanier auf den Llanos und Pampas so zahlreiche Herden von Rindern und Pferden geweidet wie jetzt, so wäre Kolumbus das Men- schengeschlecht hier in ganz anderer Verfassung entgegengetreten. Hirtenvölker, die von Milch und Käse leben, wahre Nomaden hätten diese weiten, miteinander zusammenhängenden Ebenen durchzogen. In der trockenen Jahreszeit und selbst zur Zeit der Ueberschwemmungen hätten sie den Besitz der Weiden einander streitig gemacht, sie hätten einander unterjocht und, vereint durch das gemeinsame Band der Sitten, der Sprache und der Gottesverehrung, sich zu der Stufe von Halbkultur erhoben, die uns bei den Völkern mongolischen und tatarischen Stammes überraschend entgegentritt. Dann hätte Amerika, gleich dem mittleren Asien, seine Eroberer gehabt, welche aus den Ebenen zum Plateau der Kordilleren hinaufstiegen, dem
1 `Ulaie. Herodot, Melpomene.
auf die Geſchichte unſerer Gattung beziehen. Das große afrikaniſche Sandmeer, die waſſerloſen Wüſten ſind nur von Karawanen beſucht, die bis zu 50 Tagen brauchen, ſie zu durchziehen. Die Sahara trennt die Völker von Negerbildung von den Stämmen der Araber und Berbern und iſt nur in den Oaſen bewohnt. Weiden hat ſie nur im öſtlichen Striche, wo als Wirkung der Paſſatwinde die Sandſchicht weniger dick iſt, ſo daß die Quellen zu Tage brechen können. Die Steppen Amerikas ſind nicht ſo breit, nicht ſo glühend heiß, ſie werden von herrlichen Strömen befruchtet und ſind ſo dem Verkehr der Völker weit weniger hinderlich. Die Llanos trennen die Küſtenkordillere von Caracas und die Anden von Neugranada von der Waldregion, von jener Hyläa 1 des Ori- noko, die ſchon bei der Entdeckung Amerikas von Völkern bewohnt war, welche auf einer weit tieferen Stufe der Kultur ſtanden, als die Bewohner der Küſten und vor allen des Ge- birgslandes der Kordilleren. Indeſſen waren die Steppen einſt ſo wenig eine Schutzmauer der Kultur, als ſie gegen- wärtig für die in den Wäldern lebenden Horden eine Schutz- mauer der Freiheit ſind. Sie haben die Völker am unteren Orinoko nicht abgehalten, die kleinen Flüſſe hinaufzufahren und nach Nord und Weſt Einfälle ins Land zu machen. Hätte es die mannigfaltige Verbreitung der Geſchlechter über die Erde mit ſich gebracht, daß das Hirtenleben in der Neuen Welt beſtehen konnte; hätten vor der Ankunft der Spanier auf den Llanos und Pampas ſo zahlreiche Herden von Rindern und Pferden geweidet wie jetzt, ſo wäre Kolumbus das Men- ſchengeſchlecht hier in ganz anderer Verfaſſung entgegengetreten. Hirtenvölker, die von Milch und Käſe leben, wahre Nomaden hätten dieſe weiten, miteinander zuſammenhängenden Ebenen durchzogen. In der trockenen Jahreszeit und ſelbſt zur Zeit der Ueberſchwemmungen hätten ſie den Beſitz der Weiden einander ſtreitig gemacht, ſie hätten einander unterjocht und, vereint durch das gemeinſame Band der Sitten, der Sprache und der Gottesverehrung, ſich zu der Stufe von Halbkultur erhoben, die uns bei den Völkern mongoliſchen und tatariſchen Stammes überraſchend entgegentritt. Dann hätte Amerika, gleich dem mittleren Aſien, ſeine Eroberer gehabt, welche aus den Ebenen zum Plateau der Kordilleren hinaufſtiegen, dem
1 ῾ϒλαίη. Herodot, Melpomene.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0287"n="279"/>
auf die Geſchichte unſerer Gattung beziehen. Das große<lb/>
afrikaniſche Sandmeer, die waſſerloſen Wüſten ſind nur von<lb/>
Karawanen beſucht, die bis zu 50 Tagen brauchen, ſie zu<lb/>
durchziehen. Die Sahara trennt die Völker von Negerbildung<lb/>
von den Stämmen der Araber und Berbern und iſt nur in<lb/>
den Oaſen bewohnt. Weiden hat ſie nur im öſtlichen Striche,<lb/>
wo als Wirkung der Paſſatwinde die Sandſchicht weniger<lb/>
dick iſt, ſo daß die Quellen zu Tage brechen können. Die<lb/>
Steppen Amerikas ſind nicht ſo breit, nicht ſo glühend heiß,<lb/>ſie werden von herrlichen Strömen befruchtet und ſind ſo dem<lb/>
Verkehr der Völker weit weniger hinderlich. Die <hirendition="#g">Llanos</hi><lb/>
trennen die Küſtenkordillere von Caracas und die Anden von<lb/>
Neugranada von der Waldregion, von jener Hyläa <noteplace="foot"n="1">῾ϒλαίη. <hirendition="#g">Herodot</hi>, Melpomene.</note> des Ori-<lb/>
noko, die ſchon bei der Entdeckung Amerikas von Völkern<lb/>
bewohnt war, welche auf einer weit tieferen Stufe der Kultur<lb/>ſtanden, als die Bewohner der Küſten und vor allen des Ge-<lb/>
birgslandes der Kordilleren. Indeſſen waren die Steppen<lb/>
einſt ſo wenig eine Schutzmauer der Kultur, als ſie gegen-<lb/>
wärtig für die in den Wäldern lebenden Horden eine Schutz-<lb/>
mauer der Freiheit ſind. Sie haben die Völker am unteren<lb/>
Orinoko nicht abgehalten, die kleinen Flüſſe hinaufzufahren<lb/>
und nach Nord und Weſt Einfälle ins Land zu machen. Hätte<lb/>
es die mannigfaltige Verbreitung der Geſchlechter über die<lb/>
Erde mit ſich gebracht, daß das Hirtenleben in der Neuen<lb/>
Welt beſtehen konnte; hätten vor der Ankunft der Spanier<lb/>
auf den Llanos und Pampas ſo zahlreiche Herden von Rindern<lb/>
und Pferden geweidet wie jetzt, ſo wäre Kolumbus das Men-<lb/>ſchengeſchlecht hier in ganz anderer Verfaſſung entgegengetreten.<lb/>
Hirtenvölker, die von Milch und Käſe leben, wahre Nomaden<lb/>
hätten dieſe weiten, miteinander zuſammenhängenden Ebenen<lb/>
durchzogen. In der trockenen Jahreszeit und ſelbſt zur Zeit<lb/>
der Ueberſchwemmungen hätten ſie den Beſitz der Weiden<lb/>
einander ſtreitig gemacht, ſie hätten einander unterjocht und,<lb/>
vereint durch das gemeinſame Band der Sitten, der Sprache<lb/>
und der Gottesverehrung, ſich zu der Stufe von Halbkultur<lb/>
erhoben, die uns bei den Völkern mongoliſchen und tatariſchen<lb/>
Stammes überraſchend entgegentritt. Dann hätte Amerika,<lb/>
gleich dem mittleren Aſien, ſeine Eroberer gehabt, welche aus<lb/>
den Ebenen zum Plateau der Kordilleren hinaufſtiegen, dem<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[279/0287]
auf die Geſchichte unſerer Gattung beziehen. Das große
afrikaniſche Sandmeer, die waſſerloſen Wüſten ſind nur von
Karawanen beſucht, die bis zu 50 Tagen brauchen, ſie zu
durchziehen. Die Sahara trennt die Völker von Negerbildung
von den Stämmen der Araber und Berbern und iſt nur in
den Oaſen bewohnt. Weiden hat ſie nur im öſtlichen Striche,
wo als Wirkung der Paſſatwinde die Sandſchicht weniger
dick iſt, ſo daß die Quellen zu Tage brechen können. Die
Steppen Amerikas ſind nicht ſo breit, nicht ſo glühend heiß,
ſie werden von herrlichen Strömen befruchtet und ſind ſo dem
Verkehr der Völker weit weniger hinderlich. Die Llanos
trennen die Küſtenkordillere von Caracas und die Anden von
Neugranada von der Waldregion, von jener Hyläa 1 des Ori-
noko, die ſchon bei der Entdeckung Amerikas von Völkern
bewohnt war, welche auf einer weit tieferen Stufe der Kultur
ſtanden, als die Bewohner der Küſten und vor allen des Ge-
birgslandes der Kordilleren. Indeſſen waren die Steppen
einſt ſo wenig eine Schutzmauer der Kultur, als ſie gegen-
wärtig für die in den Wäldern lebenden Horden eine Schutz-
mauer der Freiheit ſind. Sie haben die Völker am unteren
Orinoko nicht abgehalten, die kleinen Flüſſe hinaufzufahren
und nach Nord und Weſt Einfälle ins Land zu machen. Hätte
es die mannigfaltige Verbreitung der Geſchlechter über die
Erde mit ſich gebracht, daß das Hirtenleben in der Neuen
Welt beſtehen konnte; hätten vor der Ankunft der Spanier
auf den Llanos und Pampas ſo zahlreiche Herden von Rindern
und Pferden geweidet wie jetzt, ſo wäre Kolumbus das Men-
ſchengeſchlecht hier in ganz anderer Verfaſſung entgegengetreten.
Hirtenvölker, die von Milch und Käſe leben, wahre Nomaden
hätten dieſe weiten, miteinander zuſammenhängenden Ebenen
durchzogen. In der trockenen Jahreszeit und ſelbſt zur Zeit
der Ueberſchwemmungen hätten ſie den Beſitz der Weiden
einander ſtreitig gemacht, ſie hätten einander unterjocht und,
vereint durch das gemeinſame Band der Sitten, der Sprache
und der Gottesverehrung, ſich zu der Stufe von Halbkultur
erhoben, die uns bei den Völkern mongoliſchen und tatariſchen
Stammes überraſchend entgegentritt. Dann hätte Amerika,
gleich dem mittleren Aſien, ſeine Eroberer gehabt, welche aus
den Ebenen zum Plateau der Kordilleren hinaufſtiegen, dem
1 ῾ϒλαίη. Herodot, Melpomene.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859, S. 279. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial02_1859/287>, abgerufen am 23.06.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.