veränderliche Temperatur, daß in einer Herde wilder Ochsen manche mit den Beinen in der Luft zu schweben schienen, während andere auf dem Boden standen. Der Luftstrich war, je nach der Entfernung des Tieres, 3 bis 4 Minuten breit. Wo Gebüsche der Mauritiapalme in langen Streifen hinliefen, schwebten die Enden dieser grünen Streifen in der Luft, wie die Vorgebirge, die zu Cumana lange Gegenstand meiner Beobachtungen gewesen. Ein unterrichteter Mann versicherte uns, er habe zwischen Calabozo und Uritucu das verkehrte Bild eines Tieres gesehen, ohne direktes Bild. Niebuhr hat in Arabien etwas Aehnliches beobachtet. Oefters meinten wir am Horizont Grabhügel und Türme zu erblicken, die von Zeit zu Zeit verschwanden, ohne daß wir die wahre Gestalt der Gegenstände auszumitteln vermochten. Es waren wohl Erdhaufen, kleine Erhöhungen, jenseits des gewöhnlichen Ge- sichtskreises gelegen. Ich spreche nicht von den pflanzenlosen Flächen, die sich als weite Seen mit wogender Oberfläche dar- stellten. Wegen dieser Erscheinung, die am frühesten beobachtet worden ist, heißt die Luftspiegelung im Sanskrit ausdrucks- voll die Sehnsucht (der Durst) der Antilope. Die häu- figen Anspielungen der indischen, persischen und arabischen Dichter auf diese magischen Wirkungen der irdischen Strahlen- brechung sprechen uns ungemein an. Die Griechen und Römer waren fast gar nicht bekannt damit. Stolz begnügt mit dem Reichtum ihres Bodens und der Milde ihres Klimas hatten sie wenig Sinn für eine solche Poesie der Wüste. Die Ge- burtsstätte derselben ist Asien; den Dichtern des Orientes wurde sie durch die natürliche Beschaffenheit ihrer Länder an die Hand gegeben; der Anblick der weiten Einöden, die sich gleich Meeresarmen und Buchten zwischen Länder eindrängen, welche die Natur mit überschwenglicher Fruchtbarkeit geschmückt, wurde für sie zu einer Quelle der Begeisterung.
Mit Sonnenaufgang ward die Ebene belebter. Das Vieh, das sich bei Nacht längs der Teiche oder unter Murichi- und Rhopalabüschen gelagert hatte, sammelte sich zu Herden, und die Einöde bevölkerte sich mit Pferden, Maultieren und Rin- dern, die hier nicht gerade als wilde, wohl aber als freie Tiere leben, ohne festen Wohnplatz, der Pflege und des Schutzes der Menschen leicht entbehrend. In diesen heißen Landstrichen sind die Stiere, obgleich von spanischer Rasse wie die auf den kalten Plateaus von Quito, von sanfterem Tem- perament. Der Reisende läuft nie Gefahr, angefallen und
veränderliche Temperatur, daß in einer Herde wilder Ochſen manche mit den Beinen in der Luft zu ſchweben ſchienen, während andere auf dem Boden ſtanden. Der Luftſtrich war, je nach der Entfernung des Tieres, 3 bis 4 Minuten breit. Wo Gebüſche der Mauritiapalme in langen Streifen hinliefen, ſchwebten die Enden dieſer grünen Streifen in der Luft, wie die Vorgebirge, die zu Cumana lange Gegenſtand meiner Beobachtungen geweſen. Ein unterrichteter Mann verſicherte uns, er habe zwiſchen Calabozo und Uritucu das verkehrte Bild eines Tieres geſehen, ohne direktes Bild. Niebuhr hat in Arabien etwas Aehnliches beobachtet. Oefters meinten wir am Horizont Grabhügel und Türme zu erblicken, die von Zeit zu Zeit verſchwanden, ohne daß wir die wahre Geſtalt der Gegenſtände auszumitteln vermochten. Es waren wohl Erdhaufen, kleine Erhöhungen, jenſeits des gewöhnlichen Ge- ſichtskreiſes gelegen. Ich ſpreche nicht von den pflanzenloſen Flächen, die ſich als weite Seen mit wogender Oberfläche dar- ſtellten. Wegen dieſer Erſcheinung, die am früheſten beobachtet worden iſt, heißt die Luftſpiegelung im Sanskrit ausdrucks- voll die Sehnſucht (der Durſt) der Antilope. Die häu- figen Anſpielungen der indiſchen, perſiſchen und arabiſchen Dichter auf dieſe magiſchen Wirkungen der irdiſchen Strahlen- brechung ſprechen uns ungemein an. Die Griechen und Römer waren faſt gar nicht bekannt damit. Stolz begnügt mit dem Reichtum ihres Bodens und der Milde ihres Klimas hatten ſie wenig Sinn für eine ſolche Poeſie der Wüſte. Die Ge- burtsſtätte derſelben iſt Aſien; den Dichtern des Orientes wurde ſie durch die natürliche Beſchaffenheit ihrer Länder an die Hand gegeben; der Anblick der weiten Einöden, die ſich gleich Meeresarmen und Buchten zwiſchen Länder eindrängen, welche die Natur mit überſchwenglicher Fruchtbarkeit geſchmückt, wurde für ſie zu einer Quelle der Begeiſterung.
Mit Sonnenaufgang ward die Ebene belebter. Das Vieh, das ſich bei Nacht längs der Teiche oder unter Murichi- und Rhopalabüſchen gelagert hatte, ſammelte ſich zu Herden, und die Einöde bevölkerte ſich mit Pferden, Maultieren und Rin- dern, die hier nicht gerade als wilde, wohl aber als freie Tiere leben, ohne feſten Wohnplatz, der Pflege und des Schutzes der Menſchen leicht entbehrend. In dieſen heißen Landſtrichen ſind die Stiere, obgleich von ſpaniſcher Raſſe wie die auf den kalten Plateaus von Quito, von ſanfterem Tem- perament. Der Reiſende läuft nie Gefahr, angefallen und
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veränderliche Temperatur, daß in einer Herde wilder Ochſen
manche mit den Beinen in der Luft zu ſchweben ſchienen,
während andere auf dem Boden ſtanden. Der Luftſtrich war,
je nach der Entfernung des Tieres, 3 bis 4 Minuten breit.
Wo Gebüſche der Mauritiapalme in langen Streifen hinliefen,
ſchwebten die Enden dieſer grünen Streifen in der Luft, wie
die Vorgebirge, die zu Cumana lange Gegenſtand meiner
Beobachtungen geweſen. Ein unterrichteter Mann verſicherte
uns, er habe zwiſchen Calabozo und Uritucu das verkehrte
Bild eines Tieres geſehen, ohne direktes Bild. Niebuhr hat
in Arabien etwas Aehnliches beobachtet. Oefters meinten wir
am Horizont Grabhügel und Türme zu erblicken, die von
Zeit zu Zeit verſchwanden, ohne daß wir die wahre Geſtalt
der Gegenſtände auszumitteln vermochten. Es waren wohl
Erdhaufen, kleine Erhöhungen, jenſeits des gewöhnlichen Ge-
ſichtskreiſes gelegen. Ich ſpreche nicht von den pflanzenloſen
Flächen, die ſich als weite Seen mit wogender Oberfläche dar-
ſtellten. Wegen dieſer Erſcheinung, die am früheſten beobachtet
worden iſt, heißt die Luftſpiegelung im Sanskrit ausdrucks-
voll die Sehnſucht (der Durſt) der Antilope. Die häu-
figen Anſpielungen der indiſchen, perſiſchen und arabiſchen
Dichter auf dieſe magiſchen Wirkungen der irdiſchen Strahlen-
brechung ſprechen uns ungemein an. Die Griechen und Römer
waren faſt gar nicht bekannt damit. Stolz begnügt mit dem
Reichtum ihres Bodens und der Milde ihres Klimas hatten
ſie wenig Sinn für eine ſolche Poeſie der Wüſte. Die Ge-
burtsſtätte derſelben iſt Aſien; den Dichtern des Orientes wurde
ſie durch die natürliche Beſchaffenheit ihrer Länder an die
Hand gegeben; der Anblick der weiten Einöden, die ſich gleich
Meeresarmen und Buchten zwiſchen Länder eindrängen, welche
die Natur mit überſchwenglicher Fruchtbarkeit geſchmückt, wurde
für ſie zu einer Quelle der Begeiſterung.
Mit Sonnenaufgang ward die Ebene belebter. Das Vieh,
das ſich bei Nacht längs der Teiche oder unter Murichi- und
Rhopalabüſchen gelagert hatte, ſammelte ſich zu Herden, und
die Einöde bevölkerte ſich mit Pferden, Maultieren und Rin-
dern, die hier nicht gerade als wilde, wohl aber als freie
Tiere leben, ohne feſten Wohnplatz, der Pflege und des
Schutzes der Menſchen leicht entbehrend. In dieſen heißen
Landſtrichen ſind die Stiere, obgleich von ſpaniſcher Raſſe wie
die auf den kalten Plateaus von Quito, von ſanfterem Tem-
perament. Der Reiſende läuft nie Gefahr, angefallen und
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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859, S. 285. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial02_1859/293>, abgerufen am 20.06.2024.
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