Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

Bild:
<< vorherige Seite

zwei Wasserfällen, in Buchten, wo das Wasser langsam kreist,
zu baden. Auch wer sich in den Alpen, in den Pyrenäen,
selbst in den Kordilleren aufgehalten hat, so vielberufen wegen
der Zerrissenheit des Bodens und der Zerstörung, denen man
bei jedem Schritte begegnet, vermöchte nach einer bloßen Be-
schreibung sich vom Zustande des Strombettes hier nur schwer
eine Vorstellung zu machen. Auf einer Strecke von mehr als
9,2 km laufen unzählige Felsdämme quer darüber weg, eben-
so viele natürliche Wehre, ebenso viele Schwellen, ähnlich
denen im Dnjepr, welche bei den Alten Phragmoi hießen.
Der Raum zwischen den Felsdämmen im Orinoko ist mit
Inseln von verschiedener Größe gefüllt; manche sind hügelig,
in verschiedene runde Erhöhungen geteilt und 390 bis 585 m
lang, andere klein und niedrig wie bloße Klippen. Diese
Inseln zerfällen den Fluß in zahlreiche reißende Betten, in
denen das Wasser sich kochend an den Felsen bricht; alle sind
mit Jagua- und Cucuritopalmen mit federbuschartigem Laub
bewachsen, ein Palmendickicht mitten auf der schäumenden
Wasserfläche. Die Indianer, welche die leeren Pirogen durch
die Raudales schaffen, haben für jede Staffel, für jeden Felsen
einen eigenen Namen. Von Süden her kommt man zuerst
zum Salto del Piapoco, zum Sprung des Tucans; zwischen
den Inseln Avaguri und Javariveni ist der Raudal de Ja-
variveni; hier verweilten wir auf unserer Rückkehr vom Rio
Negro mehrere Stunden mitten in den Stromschnellen, um
unser Kanoe zu erwarten. Der Strom scheint zu einem großen
Teil trocken zu liegen. Granitblöcke sind aufeinander gehäuft,
wie in den Moränen, welche die Gletscher in der Schweiz
vor sich her schieben. Ueberall stürzt sich der Fluß in die
Höhlen hinab, und in einer dieser Höhlen hörten wir das
Wasser zugleich über unseren Köpfen und unter unseren Füßen
rauschen. Der Orinoko ist wie in eine Menge Arme oder
Sturzbäche geteilt, deren jeder sich durch die Felsen Bahn zu
brechen sucht. Man muß nur staunen, wie wenig Wasser
man im Flußbett sieht, über die Menge Wasserstürze, die sich
unter dem Boden verlieren, über den Donner der Wasser, die
sich schäumend an den Felsen brechen.

Cuncta fremunt undis; ac multo murmure montis
Spumens invictis canescit fluctibus amnis.
1


1 Lucan. Pharsal. X, 132.

zwei Waſſerfällen, in Buchten, wo das Waſſer langſam kreiſt,
zu baden. Auch wer ſich in den Alpen, in den Pyrenäen,
ſelbſt in den Kordilleren aufgehalten hat, ſo vielberufen wegen
der Zerriſſenheit des Bodens und der Zerſtörung, denen man
bei jedem Schritte begegnet, vermöchte nach einer bloßen Be-
ſchreibung ſich vom Zuſtande des Strombettes hier nur ſchwer
eine Vorſtellung zu machen. Auf einer Strecke von mehr als
9,2 km laufen unzählige Felsdämme quer darüber weg, eben-
ſo viele natürliche Wehre, ebenſo viele Schwellen, ähnlich
denen im Dnjepr, welche bei den Alten Phragmoi hießen.
Der Raum zwiſchen den Felsdämmen im Orinoko iſt mit
Inſeln von verſchiedener Größe gefüllt; manche ſind hügelig,
in verſchiedene runde Erhöhungen geteilt und 390 bis 585 m
lang, andere klein und niedrig wie bloße Klippen. Dieſe
Inſeln zerfällen den Fluß in zahlreiche reißende Betten, in
denen das Waſſer ſich kochend an den Felſen bricht; alle ſind
mit Jagua- und Cucuritopalmen mit federbuſchartigem Laub
bewachſen, ein Palmendickicht mitten auf der ſchäumenden
Waſſerfläche. Die Indianer, welche die leeren Pirogen durch
die Raudales ſchaffen, haben für jede Staffel, für jeden Felſen
einen eigenen Namen. Von Süden her kommt man zuerſt
zum Salto del Piapoco, zum Sprung des Tucans; zwiſchen
den Inſeln Avaguri und Javariveni iſt der Raudal de Ja-
variveni; hier verweilten wir auf unſerer Rückkehr vom Rio
Negro mehrere Stunden mitten in den Stromſchnellen, um
unſer Kanoe zu erwarten. Der Strom ſcheint zu einem großen
Teil trocken zu liegen. Granitblöcke ſind aufeinander gehäuft,
wie in den Moränen, welche die Gletſcher in der Schweiz
vor ſich her ſchieben. Ueberall ſtürzt ſich der Fluß in die
Höhlen hinab, und in einer dieſer Höhlen hörten wir das
Waſſer zugleich über unſeren Köpfen und unter unſeren Füßen
rauſchen. Der Orinoko iſt wie in eine Menge Arme oder
Sturzbäche geteilt, deren jeder ſich durch die Felſen Bahn zu
brechen ſucht. Man muß nur ſtaunen, wie wenig Waſſer
man im Flußbett ſieht, über die Menge Waſſerſtürze, die ſich
unter dem Boden verlieren, über den Donner der Waſſer, die
ſich ſchäumend an den Felſen brechen.

Cuncta fremunt undis; ac multo murmure montis
Spumens invictis canescit fluctibus amnis.
1


1 Lucan. Pharsal. X, 132.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0134" n="126"/>
zwei Wa&#x017F;&#x017F;erfällen, in Buchten, wo das Wa&#x017F;&#x017F;er lang&#x017F;am krei&#x017F;t,<lb/>
zu baden. Auch wer &#x017F;ich in den Alpen, in den Pyrenäen,<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t in den Kordilleren aufgehalten hat, &#x017F;o vielberufen wegen<lb/>
der Zerri&#x017F;&#x017F;enheit des Bodens und der Zer&#x017F;törung, denen man<lb/>
bei jedem Schritte begegnet, vermöchte nach einer bloßen Be-<lb/>
&#x017F;chreibung &#x017F;ich vom Zu&#x017F;tande des Strombettes hier nur &#x017F;chwer<lb/>
eine Vor&#x017F;tellung zu machen. Auf einer Strecke von mehr als<lb/>
9,2 <hi rendition="#aq">km</hi> laufen unzählige Felsdämme quer darüber weg, eben-<lb/>
&#x017F;o viele natürliche Wehre, eben&#x017F;o viele <hi rendition="#g">Schwellen</hi>, ähnlich<lb/>
denen im Dnjepr, welche bei den Alten <hi rendition="#g">Phragmoi</hi> hießen.<lb/>
Der Raum zwi&#x017F;chen den Felsdämmen im Orinoko i&#x017F;t mit<lb/>
In&#x017F;eln von ver&#x017F;chiedener Größe gefüllt; manche &#x017F;ind hügelig,<lb/>
in ver&#x017F;chiedene runde Erhöhungen geteilt und 390 bis 585 <hi rendition="#aq">m</hi><lb/>
lang, andere klein und niedrig wie bloße Klippen. Die&#x017F;e<lb/>
In&#x017F;eln zerfällen den Fluß in zahlreiche reißende Betten, in<lb/>
denen das Wa&#x017F;&#x017F;er &#x017F;ich kochend an den Fel&#x017F;en bricht; alle &#x017F;ind<lb/>
mit Jagua- und Cucuritopalmen mit federbu&#x017F;chartigem Laub<lb/>
bewach&#x017F;en, ein Palmendickicht mitten auf der &#x017F;chäumenden<lb/>
Wa&#x017F;&#x017F;erfläche. Die Indianer, welche die leeren Pirogen durch<lb/>
die Raudales &#x017F;chaffen, haben für jede Staffel, für jeden Fel&#x017F;en<lb/>
einen eigenen Namen. Von Süden her kommt man zuer&#x017F;t<lb/>
zum <hi rendition="#aq">Salto del Piapoco,</hi> zum Sprung des Tucans; zwi&#x017F;chen<lb/>
den In&#x017F;eln Avaguri und Javariveni i&#x017F;t der Raudal de Ja-<lb/>
variveni; hier verweilten wir auf un&#x017F;erer Rückkehr vom Rio<lb/>
Negro mehrere Stunden mitten in den Strom&#x017F;chnellen, um<lb/>
un&#x017F;er Kanoe zu erwarten. Der Strom &#x017F;cheint zu einem großen<lb/>
Teil trocken zu liegen. Granitblöcke &#x017F;ind aufeinander gehäuft,<lb/>
wie in den Moränen, welche die Glet&#x017F;cher in der Schweiz<lb/>
vor &#x017F;ich her &#x017F;chieben. Ueberall &#x017F;türzt &#x017F;ich der Fluß in die<lb/>
Höhlen hinab, und in einer die&#x017F;er Höhlen hörten wir das<lb/>
Wa&#x017F;&#x017F;er zugleich über un&#x017F;eren Köpfen und unter un&#x017F;eren Füßen<lb/>
rau&#x017F;chen. Der Orinoko i&#x017F;t wie in eine Menge Arme oder<lb/>
Sturzbäche geteilt, deren jeder &#x017F;ich durch die Fel&#x017F;en Bahn zu<lb/>
brechen &#x017F;ucht. Man muß nur &#x017F;taunen, wie wenig Wa&#x017F;&#x017F;er<lb/>
man im Flußbett &#x017F;ieht, über die Menge Wa&#x017F;&#x017F;er&#x017F;türze, die &#x017F;ich<lb/>
unter dem Boden verlieren, über den Donner der Wa&#x017F;&#x017F;er, die<lb/>
&#x017F;ich &#x017F;chäumend an den Fel&#x017F;en brechen.</p><lb/>
          <p> <hi rendition="#et"> <hi rendition="#aq">Cuncta fremunt undis; ac multo murmure montis<lb/>
Spumens invictis canescit fluctibus amnis.</hi> <note place="foot" n="1"><hi rendition="#aq">Lucan. Pharsal. X,</hi> 132.</note>
            </hi> </p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[126/0134] zwei Waſſerfällen, in Buchten, wo das Waſſer langſam kreiſt, zu baden. Auch wer ſich in den Alpen, in den Pyrenäen, ſelbſt in den Kordilleren aufgehalten hat, ſo vielberufen wegen der Zerriſſenheit des Bodens und der Zerſtörung, denen man bei jedem Schritte begegnet, vermöchte nach einer bloßen Be- ſchreibung ſich vom Zuſtande des Strombettes hier nur ſchwer eine Vorſtellung zu machen. Auf einer Strecke von mehr als 9,2 km laufen unzählige Felsdämme quer darüber weg, eben- ſo viele natürliche Wehre, ebenſo viele Schwellen, ähnlich denen im Dnjepr, welche bei den Alten Phragmoi hießen. Der Raum zwiſchen den Felsdämmen im Orinoko iſt mit Inſeln von verſchiedener Größe gefüllt; manche ſind hügelig, in verſchiedene runde Erhöhungen geteilt und 390 bis 585 m lang, andere klein und niedrig wie bloße Klippen. Dieſe Inſeln zerfällen den Fluß in zahlreiche reißende Betten, in denen das Waſſer ſich kochend an den Felſen bricht; alle ſind mit Jagua- und Cucuritopalmen mit federbuſchartigem Laub bewachſen, ein Palmendickicht mitten auf der ſchäumenden Waſſerfläche. Die Indianer, welche die leeren Pirogen durch die Raudales ſchaffen, haben für jede Staffel, für jeden Felſen einen eigenen Namen. Von Süden her kommt man zuerſt zum Salto del Piapoco, zum Sprung des Tucans; zwiſchen den Inſeln Avaguri und Javariveni iſt der Raudal de Ja- variveni; hier verweilten wir auf unſerer Rückkehr vom Rio Negro mehrere Stunden mitten in den Stromſchnellen, um unſer Kanoe zu erwarten. Der Strom ſcheint zu einem großen Teil trocken zu liegen. Granitblöcke ſind aufeinander gehäuft, wie in den Moränen, welche die Gletſcher in der Schweiz vor ſich her ſchieben. Ueberall ſtürzt ſich der Fluß in die Höhlen hinab, und in einer dieſer Höhlen hörten wir das Waſſer zugleich über unſeren Köpfen und unter unſeren Füßen rauſchen. Der Orinoko iſt wie in eine Menge Arme oder Sturzbäche geteilt, deren jeder ſich durch die Felſen Bahn zu brechen ſucht. Man muß nur ſtaunen, wie wenig Waſſer man im Flußbett ſieht, über die Menge Waſſerſtürze, die ſich unter dem Boden verlieren, über den Donner der Waſſer, die ſich ſchäumend an den Felſen brechen. Cuncta fremunt undis; ac multo murmure montis Spumens invictis canescit fluctibus amnis. 1 1 Lucan. Pharsal. X, 132.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial03_1859
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial03_1859/134
Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 126. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial03_1859/134>, abgerufen am 18.12.2024.