Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.und 0° 2' westwärts von der Mission Javita. Der Canno ist Der Morgen war kühl und schön. 36 Tage waren wir und 0° 2′ weſtwärts von der Miſſion Javita. Der Caño iſt Der Morgen war kühl und ſchön. 36 Tage waren wir <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0252" n="244"/> und 0° 2′ weſtwärts von der Miſſion Javita. Der Caño iſt<lb/> das ganze Jahr ſchiffbar; er hat nur einen einzigen <hi rendition="#g">Raudal</hi>,<lb/> über den ziemlich ſchwer heraufzukommen iſt; ſeine Ufer ſind<lb/> niedrig, aber felſig. Nachdem wir fünftehalb Stunden lang<lb/> den Krümmungen des ſchmalen Fahrwaſſers gefolgt waren,<lb/> liefen wir endlich in den Rio Negro ein.</p><lb/> <p>Der Morgen war kühl und ſchön. 36 Tage waren wir<lb/> in einem ſchmalen Kanoe eingeſperrt geweſen, das ſo unſtät<lb/> war, daß es umgeſchlagen hätte, wäre man unvorſichtig auf-<lb/> geſtanden, ohne den Ruderern am anderen Bord zuzurufen,<lb/> ſich überzulehnen und das Gleichgewicht herzuſtellen. Wir<lb/> hatten vom Inſektenſtiche furchtbar gelitten, aber das un-<lb/> geſunde Klima hatte uns nichts angehabt; wir waren, ohne<lb/> umzuſchlagen, über eine ganze Menge Waſſerfälle und Fluß-<lb/> dämme gekommen, welche die Stromfahrt ſehr beſchwerlich<lb/> und oft gefährlicher machen als lange Seereiſen. Nach allem,<lb/> was wir bis jetzt durchgemacht, wird es mir hoffentlich ge-<lb/> ſtattet ſein auszuſprechen, wie herzlich froh wir waren, daß<lb/> wir die Nebenflüſſe des Amazonenſtromes erreicht, daß wir<lb/> die Landenge zwiſchen zwei großen Flußſyſtemen hinter uns<lb/> hatten und nunmehr mit Zuverſicht der Erreichung des Haupt-<lb/> zweckes unſerer Reiſe entgegenſehen konnten, der aſtronomiſchen<lb/> Aufnahme jenes Armes des Orinoko, der ſich in den Rio<lb/> Negro ergießt, und deſſen Exiſtenz ſeit einem halben Jahr-<lb/> hundert bald bewieſen, bald wieder in Abrede gezogen worden.<lb/> Ein Gegenſtand, den man lange vor dem inneren Auge gehabt,<lb/> wächſt uns an Bedeutung, je näher wir ihm kommen. Jene<lb/> unbewohnten, mit Wald bedeckten, geſchichtsloſen Ufer des<lb/> Caſſiquiare beſchäftigten damals meine Einbildungskraft, wie<lb/> die in der Geſchichte der Kulturvölker hochberühmten Ufer des<lb/> Euphrat und des Oxus. Hier, inmitten des neuen Kontinents,<lb/> gewöhnt man ſich beinahe daran, den Menſchen als etwas zu<lb/> betrachten, das nicht notwendig zur Naturordnung gehört.<lb/> Der Boden iſt dicht bedeckt mit Gewächſen, und ihre freie<lb/> Entwickelung findet nirgends ein Hindernis. Eine mächtige<lb/> Schicht Dammerde weiſt darauf hin, daß die organiſchen Kräfte<lb/> hier ohne Unterbrechung fort und fort gewaltet haben. Kro-<lb/> kodile und Boa ſind die Herren des Stromes; der Jaguar,<lb/> der Pecari, der Tapir und die Affen ſtreifen durch den Wald,<lb/> ohne Furcht und ohne Gefährde; ſie hauſen hier wie auf<lb/> ihrem angeſtammten Erbe. Dieſer Anblick der lebendigen<lb/> Natur, in der der Menſch nichts iſt, hat etwas Befremdendes<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [244/0252]
und 0° 2′ weſtwärts von der Miſſion Javita. Der Caño iſt
das ganze Jahr ſchiffbar; er hat nur einen einzigen Raudal,
über den ziemlich ſchwer heraufzukommen iſt; ſeine Ufer ſind
niedrig, aber felſig. Nachdem wir fünftehalb Stunden lang
den Krümmungen des ſchmalen Fahrwaſſers gefolgt waren,
liefen wir endlich in den Rio Negro ein.
Der Morgen war kühl und ſchön. 36 Tage waren wir
in einem ſchmalen Kanoe eingeſperrt geweſen, das ſo unſtät
war, daß es umgeſchlagen hätte, wäre man unvorſichtig auf-
geſtanden, ohne den Ruderern am anderen Bord zuzurufen,
ſich überzulehnen und das Gleichgewicht herzuſtellen. Wir
hatten vom Inſektenſtiche furchtbar gelitten, aber das un-
geſunde Klima hatte uns nichts angehabt; wir waren, ohne
umzuſchlagen, über eine ganze Menge Waſſerfälle und Fluß-
dämme gekommen, welche die Stromfahrt ſehr beſchwerlich
und oft gefährlicher machen als lange Seereiſen. Nach allem,
was wir bis jetzt durchgemacht, wird es mir hoffentlich ge-
ſtattet ſein auszuſprechen, wie herzlich froh wir waren, daß
wir die Nebenflüſſe des Amazonenſtromes erreicht, daß wir
die Landenge zwiſchen zwei großen Flußſyſtemen hinter uns
hatten und nunmehr mit Zuverſicht der Erreichung des Haupt-
zweckes unſerer Reiſe entgegenſehen konnten, der aſtronomiſchen
Aufnahme jenes Armes des Orinoko, der ſich in den Rio
Negro ergießt, und deſſen Exiſtenz ſeit einem halben Jahr-
hundert bald bewieſen, bald wieder in Abrede gezogen worden.
Ein Gegenſtand, den man lange vor dem inneren Auge gehabt,
wächſt uns an Bedeutung, je näher wir ihm kommen. Jene
unbewohnten, mit Wald bedeckten, geſchichtsloſen Ufer des
Caſſiquiare beſchäftigten damals meine Einbildungskraft, wie
die in der Geſchichte der Kulturvölker hochberühmten Ufer des
Euphrat und des Oxus. Hier, inmitten des neuen Kontinents,
gewöhnt man ſich beinahe daran, den Menſchen als etwas zu
betrachten, das nicht notwendig zur Naturordnung gehört.
Der Boden iſt dicht bedeckt mit Gewächſen, und ihre freie
Entwickelung findet nirgends ein Hindernis. Eine mächtige
Schicht Dammerde weiſt darauf hin, daß die organiſchen Kräfte
hier ohne Unterbrechung fort und fort gewaltet haben. Kro-
kodile und Boa ſind die Herren des Stromes; der Jaguar,
der Pecari, der Tapir und die Affen ſtreifen durch den Wald,
ohne Furcht und ohne Gefährde; ſie hauſen hier wie auf
ihrem angeſtammten Erbe. Dieſer Anblick der lebendigen
Natur, in der der Menſch nichts iſt, hat etwas Befremdendes
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