auf und ab zu schwanken, während sich kein Lüftchen rührte. Die Sonne war nahe am Zenith und ihr glänzendes, vom Spiegel des Stromes zurückgeworfenes Licht stach scharf ab vom rötlichen Dunst, der alle Gegenstände in der Nähe um- gab. Wie tief ist doch der Eindruck, den in diesen heißen Landstrichen um die Mittagszeit die Stille der Natur auf uns macht! Die Waldtiere verbergen sich im Dickicht, die Vögel schlüpfen unter das Laub der Bäume oder in Fels- spalten. Horcht man aber in dieser scheinbaren tiefen Stille auf die leisesten Laute, die die Luft an unser Ohr trägt, so vernimmt man ein dumpfes Schwirren, ein beständiges Brausen und Summen der Insekten, von denen alle unteren Luft- schichten wimmeln. Nichts kann dem Menschen lebendiger vor die Seele führen, wie weit und wie gewaltig das Reich des organischen Lebens ist. Myriaden Insekten kriechen auf dem Boden oder umgaukeln die von der Sonnenhitze verbrannten Gewächse. Ein wirres Getöne dringt aus jedem Busch, aus faulen Baumstämmen, aus den Felsspalten, aus dem Boden, in dem Eidechsen, Tausendfüße, Cäcilien ihre Gänge graben. Es sind ebenso viele Stimmen, die uns zurufen, daß alles in der Natur atmet, daß in tausendfältiger Gestalt das Leben im staubigen, zerklüfteten Boden waltet, so gut wie im Schoße der Wasser und in der Luft, die uns umgibt. Die Empfindungen, die ich hier andeute, sind keinem fremd, der zwar nicht bis zum Aequator gekommen, aber doch in Italien, in Spanien oder in Aegypten gewesen ist. Dieser Kontrast zwischen Regsamkeit und Stille, dieses ruhige und doch wieder so bewegte Antlitz der Natur wirken lebhaft auf die Ein- bildungskraft des Reisenden, sobald er das Becken des Mittel- meeres, die Zone der Olive, des Chamärops und der Dattel- palme betritt.
Wir übernachteten am östlichen Ufer des Orinoko am Fuße eines Granithügels. An diesem öden Fleck lag früher die Mission San Regis. Gar gern hätten wir im Bara- guan eine Quelle gefunden. Das Flußwasser hatte einen Bisamgeruch und einen süßlichen, äußerst unangenehmen Ge- schmack. Beim Orinoko wie beim Apure ist es sehr auffallend, wie abweichend sich in dieser Beziehung, am dürrsten Ufer, verschiedene Stellen im Strome verhalten. Bald ist das Wasser ganz trinkbar, bald scheint es mit gallertigen Stoffen beladen. "Das macht die Rinde (die lederartige Hautdecke) der faulenden Kaiman," sagen die Indianer. "Je älter der
auf und ab zu ſchwanken, während ſich kein Lüftchen rührte. Die Sonne war nahe am Zenith und ihr glänzendes, vom Spiegel des Stromes zurückgeworfenes Licht ſtach ſcharf ab vom rötlichen Dunſt, der alle Gegenſtände in der Nähe um- gab. Wie tief iſt doch der Eindruck, den in dieſen heißen Landſtrichen um die Mittagszeit die Stille der Natur auf uns macht! Die Waldtiere verbergen ſich im Dickicht, die Vögel ſchlüpfen unter das Laub der Bäume oder in Fels- ſpalten. Horcht man aber in dieſer ſcheinbaren tiefen Stille auf die leiſeſten Laute, die die Luft an unſer Ohr trägt, ſo vernimmt man ein dumpfes Schwirren, ein beſtändiges Brauſen und Summen der Inſekten, von denen alle unteren Luft- ſchichten wimmeln. Nichts kann dem Menſchen lebendiger vor die Seele führen, wie weit und wie gewaltig das Reich des organiſchen Lebens iſt. Myriaden Inſekten kriechen auf dem Boden oder umgaukeln die von der Sonnenhitze verbrannten Gewächſe. Ein wirres Getöne dringt aus jedem Buſch, aus faulen Baumſtämmen, aus den Felsſpalten, aus dem Boden, in dem Eidechſen, Tauſendfüße, Cäcilien ihre Gänge graben. Es ſind ebenſo viele Stimmen, die uns zurufen, daß alles in der Natur atmet, daß in tauſendfältiger Geſtalt das Leben im ſtaubigen, zerklüfteten Boden waltet, ſo gut wie im Schoße der Waſſer und in der Luft, die uns umgibt. Die Empfindungen, die ich hier andeute, ſind keinem fremd, der zwar nicht bis zum Aequator gekommen, aber doch in Italien, in Spanien oder in Aegypten geweſen iſt. Dieſer Kontraſt zwiſchen Regſamkeit und Stille, dieſes ruhige und doch wieder ſo bewegte Antlitz der Natur wirken lebhaft auf die Ein- bildungskraft des Reiſenden, ſobald er das Becken des Mittel- meeres, die Zone der Olive, des Chamärops und der Dattel- palme betritt.
Wir übernachteten am öſtlichen Ufer des Orinoko am Fuße eines Granithügels. An dieſem öden Fleck lag früher die Miſſion San Regis. Gar gern hätten wir im Bara- guan eine Quelle gefunden. Das Flußwaſſer hatte einen Biſamgeruch und einen ſüßlichen, äußerſt unangenehmen Ge- ſchmack. Beim Orinoko wie beim Apure iſt es ſehr auffallend, wie abweichend ſich in dieſer Beziehung, am dürrſten Ufer, verſchiedene Stellen im Strome verhalten. Bald iſt das Waſſer ganz trinkbar, bald ſcheint es mit gallertigen Stoffen beladen. „Das macht die Rinde (die lederartige Hautdecke) der faulenden Kaiman,“ ſagen die Indianer. „Je älter der
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auf und ab zu ſchwanken, während ſich kein Lüftchen rührte.
Die Sonne war nahe am Zenith und ihr glänzendes, vom
Spiegel des Stromes zurückgeworfenes Licht ſtach ſcharf ab
vom rötlichen Dunſt, der alle Gegenſtände in der Nähe um-
gab. Wie tief iſt doch der Eindruck, den in dieſen heißen
Landſtrichen um die Mittagszeit die Stille der Natur auf
uns macht! Die Waldtiere verbergen ſich im Dickicht, die
Vögel ſchlüpfen unter das Laub der Bäume oder in Fels-
ſpalten. Horcht man aber in dieſer ſcheinbaren tiefen Stille
auf die leiſeſten Laute, die die Luft an unſer Ohr trägt, ſo
vernimmt man ein dumpfes Schwirren, ein beſtändiges Brauſen
und Summen der Inſekten, von denen alle unteren Luft-
ſchichten wimmeln. Nichts kann dem Menſchen lebendiger vor
die Seele führen, wie weit und wie gewaltig das Reich des
organiſchen Lebens iſt. Myriaden Inſekten kriechen auf dem
Boden oder umgaukeln die von der Sonnenhitze verbrannten
Gewächſe. Ein wirres Getöne dringt aus jedem Buſch, aus
faulen Baumſtämmen, aus den Felsſpalten, aus dem Boden,
in dem Eidechſen, Tauſendfüße, Cäcilien ihre Gänge graben.
Es ſind ebenſo viele Stimmen, die uns zurufen, daß alles
in der Natur atmet, daß in tauſendfältiger Geſtalt das Leben
im ſtaubigen, zerklüfteten Boden waltet, ſo gut wie im
Schoße der Waſſer und in der Luft, die uns umgibt. Die
Empfindungen, die ich hier andeute, ſind keinem fremd, der
zwar nicht bis zum Aequator gekommen, aber doch in Italien,
in Spanien oder in Aegypten geweſen iſt. Dieſer Kontraſt
zwiſchen Regſamkeit und Stille, dieſes ruhige und doch wieder
ſo bewegte Antlitz der Natur wirken lebhaft auf die Ein-
bildungskraft des Reiſenden, ſobald er das Becken des Mittel-
meeres, die Zone der Olive, des Chamärops und der Dattel-
palme betritt.
Wir übernachteten am öſtlichen Ufer des Orinoko am
Fuße eines Granithügels. An dieſem öden Fleck lag früher
die Miſſion San Regis. Gar gern hätten wir im Bara-
guan eine Quelle gefunden. Das Flußwaſſer hatte einen
Biſamgeruch und einen ſüßlichen, äußerſt unangenehmen Ge-
ſchmack. Beim Orinoko wie beim Apure iſt es ſehr auffallend,
wie abweichend ſich in dieſer Beziehung, am dürrſten Ufer,
verſchiedene Stellen im Strome verhalten. Bald iſt das
Waſſer ganz trinkbar, bald ſcheint es mit gallertigen Stoffen
beladen. „Das macht die Rinde (die lederartige Hautdecke)
der faulenden Kaiman,“ ſagen die Indianer. „Je älter der
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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial03_1859/71>, abgerufen am 16.02.2025.
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