die Llanos betritt, werden sie traurig und niedergeschlagen. Der unbedeutenden Zunahme der Temperatur kann man diese Veränderung nicht zuschreiben, sie scheint vielmehr vom stär- keren Licht, von der gringeren Feuchtigkeit und von irgend welcher chemischen Beschaffenheit der Luft an der Küste her- zurühren.
Den Saimiri oder Titi vom Orinoko, den Atelen, Saju und anderen schon lange in Europa bekannten Vier- händern steht in scharfem Abstich, nach Habitus und Lebens- weise, der Macavahu1 gegenüber, den die Missionäre Viudita oder Witwe in Trauer nennen. Das kleine Tier hat feines, glänzendes, schön schwarzes Haar. Das Gesicht hat eine weiß- liche, ins Blaue spielende Larve, in der Augen, Nase und Mund stehen. Die Ohren haben einen umgebogenen Rand, sind klein, wohlgebildet und fast ganz nackt. Vorn am Halse hat die Witwe einen weißen, zollbreiten Strich, der ein halbes Halsband bildet. Die Hinterfüße oder vielmehr Hände sind schwarz wie der übrige Körper, aber die Vorderhände sind außen weiß und innen glänzend schwarz. Diese weißen Abzeichen deuten nun die Missionäre als Schleier, Halstuch und Handschuhe einer Witwe in Trauer. Die Gemütsart dieses kleinen Affen, der sich nur beim Fressen auf den Hinter- beinen aufrichtet, verrät sich durch seine Haltung nur schwer. Er sieht sanft und schüchtern aus; häufig berührt er das Fressen nicht, das man ihm bietet, selbst wenn er starken Hunger hat. Er ist nicht gern in Gesellschaft anderer Affen; wenn er den kleinsten Saimiri ansichtig wird, läuft er davon. Sein Auge verrät große Lebhaftigkeit. Wir sahen ihn stunden- lang regungslos dasitzen, ohne daß er schlief, und auf alles, was um ihn vorging, achten. Aber diese Schüchternheit und Sanftmut sind nur scheinbar. Ist die Viudita allein, sich selbst überlassen, so wird sie wütend, sobald sie einen Vogel sieht. Sie klettert und läuft dann mit erstaunlicher Behendig- keit; sie macht einen Satz auf ihre Beute, wie die Katze, und erwürgt, was sie erhaschen kann. Dieser sehr seltene und sehr zärtliche Affe lebt auf dem rechten Ufer des Orinoko in den Granitgebirgen hinter der Mission Santa Barbara, ferner am Guaviare bei San Fernando de Atabapo. Die Viudita hat die ganze Reise auf dem Cassiquiare und Rio Negro mitgemacht und ist zweimal mit uns über die Katarakte
1Simia lugens.
die Llanos betritt, werden ſie traurig und niedergeſchlagen. Der unbedeutenden Zunahme der Temperatur kann man dieſe Veränderung nicht zuſchreiben, ſie ſcheint vielmehr vom ſtär- keren Licht, von der gringeren Feuchtigkeit und von irgend welcher chemiſchen Beſchaffenheit der Luft an der Küſte her- zurühren.
Den Saïmiri oder Titi vom Orinoko, den Atelen, Saju und anderen ſchon lange in Europa bekannten Vier- händern ſteht in ſcharfem Abſtich, nach Habitus und Lebens- weiſe, der Macavahu1 gegenüber, den die Miſſionäre Viudita oder Witwe in Trauer nennen. Das kleine Tier hat feines, glänzendes, ſchön ſchwarzes Haar. Das Geſicht hat eine weiß- liche, ins Blaue ſpielende Larve, in der Augen, Naſe und Mund ſtehen. Die Ohren haben einen umgebogenen Rand, ſind klein, wohlgebildet und faſt ganz nackt. Vorn am Halſe hat die Witwe einen weißen, zollbreiten Strich, der ein halbes Halsband bildet. Die Hinterfüße oder vielmehr Hände ſind ſchwarz wie der übrige Körper, aber die Vorderhände ſind außen weiß und innen glänzend ſchwarz. Dieſe weißen Abzeichen deuten nun die Miſſionäre als Schleier, Halstuch und Handſchuhe einer Witwe in Trauer. Die Gemütsart dieſes kleinen Affen, der ſich nur beim Freſſen auf den Hinter- beinen aufrichtet, verrät ſich durch ſeine Haltung nur ſchwer. Er ſieht ſanft und ſchüchtern aus; häufig berührt er das Freſſen nicht, das man ihm bietet, ſelbſt wenn er ſtarken Hunger hat. Er iſt nicht gern in Geſellſchaft anderer Affen; wenn er den kleinſten Saïmiri anſichtig wird, läuft er davon. Sein Auge verrät große Lebhaftigkeit. Wir ſahen ihn ſtunden- lang regungslos daſitzen, ohne daß er ſchlief, und auf alles, was um ihn vorging, achten. Aber dieſe Schüchternheit und Sanftmut ſind nur ſcheinbar. Iſt die Viudita allein, ſich ſelbſt überlaſſen, ſo wird ſie wütend, ſobald ſie einen Vogel ſieht. Sie klettert und läuft dann mit erſtaunlicher Behendig- keit; ſie macht einen Satz auf ihre Beute, wie die Katze, und erwürgt, was ſie erhaſchen kann. Dieſer ſehr ſeltene und ſehr zärtliche Affe lebt auf dem rechten Ufer des Orinoko in den Granitgebirgen hinter der Miſſion Santa Barbara, ferner am Guaviare bei San Fernando de Atabapo. Die Viudita hat die ganze Reiſe auf dem Caſſiquiare und Rio Negro mitgemacht und iſt zweimal mit uns über die Katarakte
1Simia lugens.
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[76/0084]
die Llanos betritt, werden ſie traurig und niedergeſchlagen.
Der unbedeutenden Zunahme der Temperatur kann man dieſe
Veränderung nicht zuſchreiben, ſie ſcheint vielmehr vom ſtär-
keren Licht, von der gringeren Feuchtigkeit und von irgend
welcher chemiſchen Beſchaffenheit der Luft an der Küſte her-
zurühren.
Den Saïmiri oder Titi vom Orinoko, den Atelen,
Saju und anderen ſchon lange in Europa bekannten Vier-
händern ſteht in ſcharfem Abſtich, nach Habitus und Lebens-
weiſe, der Macavahu 1 gegenüber, den die Miſſionäre Viudita
oder Witwe in Trauer nennen. Das kleine Tier hat feines,
glänzendes, ſchön ſchwarzes Haar. Das Geſicht hat eine weiß-
liche, ins Blaue ſpielende Larve, in der Augen, Naſe und
Mund ſtehen. Die Ohren haben einen umgebogenen Rand,
ſind klein, wohlgebildet und faſt ganz nackt. Vorn am Halſe
hat die Witwe einen weißen, zollbreiten Strich, der ein
halbes Halsband bildet. Die Hinterfüße oder vielmehr Hände
ſind ſchwarz wie der übrige Körper, aber die Vorderhände
ſind außen weiß und innen glänzend ſchwarz. Dieſe weißen
Abzeichen deuten nun die Miſſionäre als Schleier, Halstuch
und Handſchuhe einer Witwe in Trauer. Die Gemütsart
dieſes kleinen Affen, der ſich nur beim Freſſen auf den Hinter-
beinen aufrichtet, verrät ſich durch ſeine Haltung nur ſchwer.
Er ſieht ſanft und ſchüchtern aus; häufig berührt er das
Freſſen nicht, das man ihm bietet, ſelbſt wenn er ſtarken
Hunger hat. Er iſt nicht gern in Geſellſchaft anderer Affen;
wenn er den kleinſten Saïmiri anſichtig wird, läuft er davon.
Sein Auge verrät große Lebhaftigkeit. Wir ſahen ihn ſtunden-
lang regungslos daſitzen, ohne daß er ſchlief, und auf alles,
was um ihn vorging, achten. Aber dieſe Schüchternheit und
Sanftmut ſind nur ſcheinbar. Iſt die Viudita allein, ſich
ſelbſt überlaſſen, ſo wird ſie wütend, ſobald ſie einen Vogel
ſieht. Sie klettert und läuft dann mit erſtaunlicher Behendig-
keit; ſie macht einen Satz auf ihre Beute, wie die Katze, und
erwürgt, was ſie erhaſchen kann. Dieſer ſehr ſeltene und ſehr
zärtliche Affe lebt auf dem rechten Ufer des Orinoko in den
Granitgebirgen hinter der Miſſion Santa Barbara, ferner
am Guaviare bei San Fernando de Atabapo. Die Viudita
hat die ganze Reiſe auf dem Caſſiquiare und Rio Negro
mitgemacht und iſt zweimal mit uns über die Katarakte
1 Simia lugens.
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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial03_1859/84>, abgerufen am 16.02.2025.
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