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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

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gegangen. Will man die Sitten der Tiere genau beobachten,
so ist es nach meiner Meinung sehr vorteilhaft, wenn man
sie monatelang in freier Luft, nicht in Häusern, wo sie ihre
natürliche Lebhaftigkeit ganz verlieren, unter den Augen hat.

Die neue für uns bestimmte Piroge wurde noch am
Abend geladen. Es war, wie alle indianischen Kanoen, ein
mit Axt und Feuer ausgehöhlter Baumstamm, 13 m lang
und 1 m breit. Drei Personen konnten nicht nebeneinander
darin sitzen. Diese Pirogen sind so beweglich, sie erfordern,
weil sie so wenig Widerstand leisten, eine so gleichmäßige Ver-
teilung der Last, daß man, wenn man einen Augenblick auf-
stehen will, den Ruderern (bogas) zurufen muß, sich auf die
entgegengesetzte Seite zu lehnen; ohne diese Vorsicht liefe das
Wasser notwendig über den geneigten Bord. Man macht sich
nur schwer einen Begriff davon, wie übel man auf einem
solchen elenden Fahrzeuge daran ist.

Der Missionär aus den Raudales betrieb die Zu-
rüstungen zur Weiterfahrt eifriger, als uns lieb war. Man
besorgte, nicht genug Macos- und Guahibos-Indianer zur
Hand zu haben, die mit dem Labyrinth von kleinen Kanälen
und Wasserfällen, welche die Raudales oder Katarakte bilden,
bekannt wären; man legte daher die Nacht über zwei In-
dianer in den Cepo, das heißt, man legte sie auf den Boden
und steckte ihnen die Beine durch zwei Holzstücke mit Aus-
schnitten, um die man eine Kette mit Vorlegschloß legte. Am
frühen Morgen weckte uns das Geschrei eines jungen Mannes,
den man mit einem Seekuhriemen unbarmherzig peitschte. Es
war Zerepe, ein sehr verständiger Indianer, der uns in
der Folge die besten Dienste leistete, jetzt aber nicht mit uns
gehen wollte. Er war aus der Mission Atures gebürtig, sein
Vater war ein Maco, seine Mutter vom Stamme der May-
pures; er war in die Wälder (al monte) entlaufen und
hatte ein paar Jahre unter nicht unterworfenen Indianern
gelebt. Dadurch hatte er sich mehrere Sprachen zu eigen ge-
macht, und der Missionär brauchte ihn als Dolmetscher. Nur
mit Mühe brachten wir es dahin, daß der junge Mann be-
gnadigt wurde. "Ohne solche Strenge," hieß es, "würde es
euch an allem fehlen. Die Indianer aus den Raudales und
vom oberen Orinoko sind ein stärkerer und arbeitsamerer Men-
schenschlag als die am unteren Orinoko. Sie wissen wohl,
daß sie in Angostura sehr gesucht sind. Ließe man sie machen,
so gingen sie alle den Fluß hinunter, um ihre Produkte zu

gegangen. Will man die Sitten der Tiere genau beobachten,
ſo iſt es nach meiner Meinung ſehr vorteilhaft, wenn man
ſie monatelang in freier Luft, nicht in Häuſern, wo ſie ihre
natürliche Lebhaftigkeit ganz verlieren, unter den Augen hat.

Die neue für uns beſtimmte Piroge wurde noch am
Abend geladen. Es war, wie alle indianiſchen Kanoen, ein
mit Axt und Feuer ausgehöhlter Baumſtamm, 13 m lang
und 1 m breit. Drei Perſonen konnten nicht nebeneinander
darin ſitzen. Dieſe Pirogen ſind ſo beweglich, ſie erfordern,
weil ſie ſo wenig Widerſtand leiſten, eine ſo gleichmäßige Ver-
teilung der Laſt, daß man, wenn man einen Augenblick auf-
ſtehen will, den Ruderern (bogas) zurufen muß, ſich auf die
entgegengeſetzte Seite zu lehnen; ohne dieſe Vorſicht liefe das
Waſſer notwendig über den geneigten Bord. Man macht ſich
nur ſchwer einen Begriff davon, wie übel man auf einem
ſolchen elenden Fahrzeuge daran iſt.

Der Miſſionär aus den Raudales betrieb die Zu-
rüſtungen zur Weiterfahrt eifriger, als uns lieb war. Man
beſorgte, nicht genug Macos- und Guahibos-Indianer zur
Hand zu haben, die mit dem Labyrinth von kleinen Kanälen
und Waſſerfällen, welche die Raudales oder Katarakte bilden,
bekannt wären; man legte daher die Nacht über zwei In-
dianer in den Cepo, das heißt, man legte ſie auf den Boden
und ſteckte ihnen die Beine durch zwei Holzſtücke mit Aus-
ſchnitten, um die man eine Kette mit Vorlegſchloß legte. Am
frühen Morgen weckte uns das Geſchrei eines jungen Mannes,
den man mit einem Seekuhriemen unbarmherzig peitſchte. Es
war Zerepe, ein ſehr verſtändiger Indianer, der uns in
der Folge die beſten Dienſte leiſtete, jetzt aber nicht mit uns
gehen wollte. Er war aus der Miſſion Atures gebürtig, ſein
Vater war ein Maco, ſeine Mutter vom Stamme der May-
pures; er war in die Wälder (al monte) entlaufen und
hatte ein paar Jahre unter nicht unterworfenen Indianern
gelebt. Dadurch hatte er ſich mehrere Sprachen zu eigen ge-
macht, und der Miſſionär brauchte ihn als Dolmetſcher. Nur
mit Mühe brachten wir es dahin, daß der junge Mann be-
gnadigt wurde. „Ohne ſolche Strenge,“ hieß es, „würde es
euch an allem fehlen. Die Indianer aus den Raudales und
vom oberen Orinoko ſind ein ſtärkerer und arbeitſamerer Men-
ſchenſchlag als die am unteren Orinoko. Sie wiſſen wohl,
daß ſie in Angoſtura ſehr geſucht ſind. Ließe man ſie machen,
ſo gingen ſie alle den Fluß hinunter, um ihre Produkte zu

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[77/0085] gegangen. Will man die Sitten der Tiere genau beobachten, ſo iſt es nach meiner Meinung ſehr vorteilhaft, wenn man ſie monatelang in freier Luft, nicht in Häuſern, wo ſie ihre natürliche Lebhaftigkeit ganz verlieren, unter den Augen hat. Die neue für uns beſtimmte Piroge wurde noch am Abend geladen. Es war, wie alle indianiſchen Kanoen, ein mit Axt und Feuer ausgehöhlter Baumſtamm, 13 m lang und 1 m breit. Drei Perſonen konnten nicht nebeneinander darin ſitzen. Dieſe Pirogen ſind ſo beweglich, ſie erfordern, weil ſie ſo wenig Widerſtand leiſten, eine ſo gleichmäßige Ver- teilung der Laſt, daß man, wenn man einen Augenblick auf- ſtehen will, den Ruderern (bogas) zurufen muß, ſich auf die entgegengeſetzte Seite zu lehnen; ohne dieſe Vorſicht liefe das Waſſer notwendig über den geneigten Bord. Man macht ſich nur ſchwer einen Begriff davon, wie übel man auf einem ſolchen elenden Fahrzeuge daran iſt. Der Miſſionär aus den Raudales betrieb die Zu- rüſtungen zur Weiterfahrt eifriger, als uns lieb war. Man beſorgte, nicht genug Macos- und Guahibos-Indianer zur Hand zu haben, die mit dem Labyrinth von kleinen Kanälen und Waſſerfällen, welche die Raudales oder Katarakte bilden, bekannt wären; man legte daher die Nacht über zwei In- dianer in den Cepo, das heißt, man legte ſie auf den Boden und ſteckte ihnen die Beine durch zwei Holzſtücke mit Aus- ſchnitten, um die man eine Kette mit Vorlegſchloß legte. Am frühen Morgen weckte uns das Geſchrei eines jungen Mannes, den man mit einem Seekuhriemen unbarmherzig peitſchte. Es war Zerepe, ein ſehr verſtändiger Indianer, der uns in der Folge die beſten Dienſte leiſtete, jetzt aber nicht mit uns gehen wollte. Er war aus der Miſſion Atures gebürtig, ſein Vater war ein Maco, ſeine Mutter vom Stamme der May- pures; er war in die Wälder (al monte) entlaufen und hatte ein paar Jahre unter nicht unterworfenen Indianern gelebt. Dadurch hatte er ſich mehrere Sprachen zu eigen ge- macht, und der Miſſionär brauchte ihn als Dolmetſcher. Nur mit Mühe brachten wir es dahin, daß der junge Mann be- gnadigt wurde. „Ohne ſolche Strenge,“ hieß es, „würde es euch an allem fehlen. Die Indianer aus den Raudales und vom oberen Orinoko ſind ein ſtärkerer und arbeitſamerer Men- ſchenſchlag als die am unteren Orinoko. Sie wiſſen wohl, daß ſie in Angoſtura ſehr geſucht ſind. Ließe man ſie machen, ſo gingen ſie alle den Fluß hinunter, um ihre Produkte zu

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial03_1859/85>, abgerufen am 21.11.2024.