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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

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messer und sind so vollkommen kugelförmig, daß man, da sie
nur mit wenigen Punkten den Boden zu berühren schienen, meint,
beim geringsten Stoße eines Erdbebens müßten sie in die
Tiefe rollen. Ich erinnere mich nicht, unter den Verwitte-
rungserscheinungen des Granites irgendwo etwas Aehnliches
gesehen zu haben. Lägen die Kugeln auf einer anderen Ge-
birgsart, wie die Blöcke im Jura, so könnte man meinen, sie
seien im Wasser gerollt oder durch den Stoß eines elastischen
Fluidums hergeschleudert; da sie aber auf einem Gipfel
liegen, der gleichfalls aus Granit besteht, so ist wahrschein-
licher, daß sie von allmählicher Verwitterung des Gesteines
herrühren.

Zu hinterst ist das Thal mit dichtem Wald bedeckt. An
diesem schattigen, einsamen Orte, am steilen Abhange eines
Berges, ist der Eingang der Höhle vom Ataruipe. Es ist
übrigens nicht sowohl eine Höhle, als ein vorspringender
Fels, in dem die Gewässer, als sie bei den alten Umwäl-
zungen unseres Planeten so weit heraufreichten, ein weites
Loch ausgewaschen haben. In dieser Grabstätte einer ganzen
ausgestorbenen Völkerschaft zählten wir in kurzer Zeit gegen
600 wohlerhaltene und so regelmäßig verteilte Skelette, daß
man sich hinsichtlich ihrer Zahl nicht leicht hätte irren können.
Jedes Skelett liegt in einer Art Korb aus Palmblattstielen.
Diese Körbe, von den Eingeborenen Mapires genannt,
bilden eine Art viereckiger Säcke. Ihre Größe entspricht
dem Alter der Leichen; es gibt sogar welche für Kinder, die
während der Geburt gestorben; Sie wechseln in der Länge
von 26 cm bis 1,07 m. Die Skelette sind alle zusammen-
gebogen und so vollständig, daß keine Rippe, kein Fingerglied
fehlt. Die Knochen sind auf dreierlei Weisen zubereitet, ent-
weder an Luft und Sonne gebleicht, oder mit Onoto, dem
Farbstoff der Bixa Orellana, rot gefärbt, oder mumienartig
zwischen wohlriechenden Harzen in Helikonia- und Bananen-
blätter eingeknetet. Die Indianer erzählten uns, man lege
die frische Leiche in die feuchte Erde, damit sich das Fleisch
allmählich verzehre. Nach einigen Monaten nehme man sie
wieder heraus und schabe mit scharfen Steinen den Rest des
Fleisches von den Knochen. Mehrere Horden in Guyana
haben noch jetzt diesen Brauch. Neben den "Mapires" oder
Körben sieht man Gefäße von halbgebranntem Thon, welche
die Gebeine einer ganzen Familie zu enthalten schienen. Die
größten dieser Graburnen sind 1 m hoch und 1,38 cm lang.

meſſer und ſind ſo vollkommen kugelförmig, daß man, da ſie
nur mit wenigen Punkten den Boden zu berühren ſchienen, meint,
beim geringſten Stoße eines Erdbebens müßten ſie in die
Tiefe rollen. Ich erinnere mich nicht, unter den Verwitte-
rungserſcheinungen des Granites irgendwo etwas Aehnliches
geſehen zu haben. Lägen die Kugeln auf einer anderen Ge-
birgsart, wie die Blöcke im Jura, ſo könnte man meinen, ſie
ſeien im Waſſer gerollt oder durch den Stoß eines elaſtiſchen
Fluidums hergeſchleudert; da ſie aber auf einem Gipfel
liegen, der gleichfalls aus Granit beſteht, ſo iſt wahrſchein-
licher, daß ſie von allmählicher Verwitterung des Geſteines
herrühren.

Zu hinterſt iſt das Thal mit dichtem Wald bedeckt. An
dieſem ſchattigen, einſamen Orte, am ſteilen Abhange eines
Berges, iſt der Eingang der Höhle vom Ataruipe. Es iſt
übrigens nicht ſowohl eine Höhle, als ein vorſpringender
Fels, in dem die Gewäſſer, als ſie bei den alten Umwäl-
zungen unſeres Planeten ſo weit heraufreichten, ein weites
Loch ausgewaſchen haben. In dieſer Grabſtätte einer ganzen
ausgeſtorbenen Völkerſchaft zählten wir in kurzer Zeit gegen
600 wohlerhaltene und ſo regelmäßig verteilte Skelette, daß
man ſich hinſichtlich ihrer Zahl nicht leicht hätte irren können.
Jedes Skelett liegt in einer Art Korb aus Palmblattſtielen.
Dieſe Körbe, von den Eingeborenen Mapires genannt,
bilden eine Art viereckiger Säcke. Ihre Größe entſpricht
dem Alter der Leichen; es gibt ſogar welche für Kinder, die
während der Geburt geſtorben; Sie wechſeln in der Länge
von 26 cm bis 1,07 m. Die Skelette ſind alle zuſammen-
gebogen und ſo vollſtändig, daß keine Rippe, kein Fingerglied
fehlt. Die Knochen ſind auf dreierlei Weiſen zubereitet, ent-
weder an Luft und Sonne gebleicht, oder mit Onoto, dem
Farbſtoff der Bixa Orellana, rot gefärbt, oder mumienartig
zwiſchen wohlriechenden Harzen in Helikonia- und Bananen-
blätter eingeknetet. Die Indianer erzählten uns, man lege
die friſche Leiche in die feuchte Erde, damit ſich das Fleiſch
allmählich verzehre. Nach einigen Monaten nehme man ſie
wieder heraus und ſchabe mit ſcharfen Steinen den Reſt des
Fleiſches von den Knochen. Mehrere Horden in Guyana
haben noch jetzt dieſen Brauch. Neben den „Mapires“ oder
Körben ſieht man Gefäße von halbgebranntem Thon, welche
die Gebeine einer ganzen Familie zu enthalten ſchienen. Die
größten dieſer Graburnen ſind 1 m hoch und 1,38 cm lang.

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[111/0119] meſſer und ſind ſo vollkommen kugelförmig, daß man, da ſie nur mit wenigen Punkten den Boden zu berühren ſchienen, meint, beim geringſten Stoße eines Erdbebens müßten ſie in die Tiefe rollen. Ich erinnere mich nicht, unter den Verwitte- rungserſcheinungen des Granites irgendwo etwas Aehnliches geſehen zu haben. Lägen die Kugeln auf einer anderen Ge- birgsart, wie die Blöcke im Jura, ſo könnte man meinen, ſie ſeien im Waſſer gerollt oder durch den Stoß eines elaſtiſchen Fluidums hergeſchleudert; da ſie aber auf einem Gipfel liegen, der gleichfalls aus Granit beſteht, ſo iſt wahrſchein- licher, daß ſie von allmählicher Verwitterung des Geſteines herrühren. Zu hinterſt iſt das Thal mit dichtem Wald bedeckt. An dieſem ſchattigen, einſamen Orte, am ſteilen Abhange eines Berges, iſt der Eingang der Höhle vom Ataruipe. Es iſt übrigens nicht ſowohl eine Höhle, als ein vorſpringender Fels, in dem die Gewäſſer, als ſie bei den alten Umwäl- zungen unſeres Planeten ſo weit heraufreichten, ein weites Loch ausgewaſchen haben. In dieſer Grabſtätte einer ganzen ausgeſtorbenen Völkerſchaft zählten wir in kurzer Zeit gegen 600 wohlerhaltene und ſo regelmäßig verteilte Skelette, daß man ſich hinſichtlich ihrer Zahl nicht leicht hätte irren können. Jedes Skelett liegt in einer Art Korb aus Palmblattſtielen. Dieſe Körbe, von den Eingeborenen Mapires genannt, bilden eine Art viereckiger Säcke. Ihre Größe entſpricht dem Alter der Leichen; es gibt ſogar welche für Kinder, die während der Geburt geſtorben; Sie wechſeln in der Länge von 26 cm bis 1,07 m. Die Skelette ſind alle zuſammen- gebogen und ſo vollſtändig, daß keine Rippe, kein Fingerglied fehlt. Die Knochen ſind auf dreierlei Weiſen zubereitet, ent- weder an Luft und Sonne gebleicht, oder mit Onoto, dem Farbſtoff der Bixa Orellana, rot gefärbt, oder mumienartig zwiſchen wohlriechenden Harzen in Helikonia- und Bananen- blätter eingeknetet. Die Indianer erzählten uns, man lege die friſche Leiche in die feuchte Erde, damit ſich das Fleiſch allmählich verzehre. Nach einigen Monaten nehme man ſie wieder heraus und ſchabe mit ſcharfen Steinen den Reſt des Fleiſches von den Knochen. Mehrere Horden in Guyana haben noch jetzt dieſen Brauch. Neben den „Mapires“ oder Körben ſieht man Gefäße von halbgebranntem Thon, welche die Gebeine einer ganzen Familie zu enthalten ſchienen. Die größten dieſer Graburnen ſind 1 m hoch und 1,38 cm lang.

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/119>, abgerufen am 25.05.2024.