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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

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sie suchen die Alluvialschichten auf, welche die fetteste, am
feinsten anzufühlende Erde enthalten. Ich fragte den Mis-
sionär, ob man den befeuchteten Thon wirklich, wie Pater
Gumilla behauptet, die Art von Zersetzung durchmachen lasse,
wobei sich Kohlensäure und Schwefelwasserstoff entwickeln, und
die in allen Sprachen faulen heißt; er versicherte uns aber,
die Eingeborenen lassen den Thon niemals faulen, und ver-
mischen ihn auch weder mit Maismehl, noch mit Schildkrötenöl
oder Krokodilfett. Wir selbst haben schon am Orinoko und
nach unserer Heimkehr in Paris die mitgebrachten Kugeln
untersucht und keine Spur einer organischen, sei es mehligen
oder öligen Substanz darin gefunden. Dem Wilden gilt
alles für nahrhaft, was den Hunger beschwichtigt; fragt man
daher den Otomaken, von was er in den zwei Monaten, wo
der Fluß am vollsten ist, lebe, so deutet er auf seine Letten-
kugeln. Er nennt sie seine Hauptnahrung, denn in dieser Zeit
bekommt er nur selten eine Eidechse, eine Farnwurzel, einen
toten Fisch, der auf dem Wasser schwimmt. Ißt nun der
Indianer zwei Monate lang Erde aus Not (und zwar 375
bis 625 g in 24 Stunden), so läßt er sie sich doch auch das
übrige Jahr schmecken. In der trockenen Jahreszeit, beim
ergiebigsten Fischfang, reibt er seine Poyaklöße und mengt
etwas Thon unter seine Speisen. Das Auffallendste ist, daß
die Otomaken nicht vom Fleische fallen, solange sie Erde in
so bedeutender Menge verzehren. Sie sind im Gegenteil sehr
kräftig und haben keineswegs einen gespannten, aufgetriebenen
Bauch. Der Missionär Fray Ramon Bueno versichert, er habe
nie bemerkt, daß die Gesundheit der Eingeborenen während der
Ueberschwemmung des Orinoko eine Störung erlitten hätte.

Das Thatsächliche, das wir ermitteln konnten, ist ganz
einfach folgendes. Die Otomaken essen mehrere Monate lang
täglich 375 g am Feuer etwas gehärteten Letten, ohne daß
ihre Gesundheit dadurch merklich leidet. Sie netzen die Erde
wieder an, ehe sie sie verschlucken. Es ließ sich bis jetzt nicht
genau ermitteln, wie viel nährende vegetabilische oder tierische
Substanz sie während dieser Zeit in der Woche zu sich neh-
men; so viel ist aber sicher, sie selbst schreiben ihr Gefühl der
Sättigung dem Letten zu und nicht den kümmerlichen Nah-
rungsmitteln, die sie von Zeit zu Zeit daneben genießen.
Keine physiologische Erscheinung steht für sich allein da, und
so wird es nicht ohne Interesse sein, wenn ich mehrere ähn-
liche Erscheinungen, die ich zusammengebracht, hier bespreche.


ſie ſuchen die Alluvialſchichten auf, welche die fetteſte, am
feinſten anzufühlende Erde enthalten. Ich fragte den Miſ-
ſionär, ob man den befeuchteten Thon wirklich, wie Pater
Gumilla behauptet, die Art von Zerſetzung durchmachen laſſe,
wobei ſich Kohlenſäure und Schwefelwaſſerſtoff entwickeln, und
die in allen Sprachen faulen heißt; er verſicherte uns aber,
die Eingeborenen laſſen den Thon niemals faulen, und ver-
miſchen ihn auch weder mit Maismehl, noch mit Schildkrötenöl
oder Krokodilfett. Wir ſelbſt haben ſchon am Orinoko und
nach unſerer Heimkehr in Paris die mitgebrachten Kugeln
unterſucht und keine Spur einer organiſchen, ſei es mehligen
oder öligen Subſtanz darin gefunden. Dem Wilden gilt
alles für nahrhaft, was den Hunger beſchwichtigt; fragt man
daher den Otomaken, von was er in den zwei Monaten, wo
der Fluß am vollſten iſt, lebe, ſo deutet er auf ſeine Letten-
kugeln. Er nennt ſie ſeine Hauptnahrung, denn in dieſer Zeit
bekommt er nur ſelten eine Eidechſe, eine Farnwurzel, einen
toten Fiſch, der auf dem Waſſer ſchwimmt. Ißt nun der
Indianer zwei Monate lang Erde aus Not (und zwar 375
bis 625 g in 24 Stunden), ſo läßt er ſie ſich doch auch das
übrige Jahr ſchmecken. In der trockenen Jahreszeit, beim
ergiebigſten Fiſchfang, reibt er ſeine Poyaklöße und mengt
etwas Thon unter ſeine Speiſen. Das Auffallendſte iſt, daß
die Otomaken nicht vom Fleiſche fallen, ſolange ſie Erde in
ſo bedeutender Menge verzehren. Sie ſind im Gegenteil ſehr
kräftig und haben keineswegs einen geſpannten, aufgetriebenen
Bauch. Der Miſſionär Fray Ramon Bueno verſichert, er habe
nie bemerkt, daß die Geſundheit der Eingeborenen während der
Ueberſchwemmung des Orinoko eine Störung erlitten hätte.

Das Thatſächliche, das wir ermitteln konnten, iſt ganz
einfach folgendes. Die Otomaken eſſen mehrere Monate lang
täglich 375 g am Feuer etwas gehärteten Letten, ohne daß
ihre Geſundheit dadurch merklich leidet. Sie netzen die Erde
wieder an, ehe ſie ſie verſchlucken. Es ließ ſich bis jetzt nicht
genau ermitteln, wie viel nährende vegetabiliſche oder tieriſche
Subſtanz ſie während dieſer Zeit in der Woche zu ſich neh-
men; ſo viel iſt aber ſicher, ſie ſelbſt ſchreiben ihr Gefühl der
Sättigung dem Letten zu und nicht den kümmerlichen Nah-
rungsmitteln, die ſie von Zeit zu Zeit daneben genießen.
Keine phyſiologiſche Erſcheinung ſteht für ſich allein da, und
ſo wird es nicht ohne Intereſſe ſein, wenn ich mehrere ähn-
liche Erſcheinungen, die ich zuſammengebracht, hier beſpreche.


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[124/0132] ſie ſuchen die Alluvialſchichten auf, welche die fetteſte, am feinſten anzufühlende Erde enthalten. Ich fragte den Miſ- ſionär, ob man den befeuchteten Thon wirklich, wie Pater Gumilla behauptet, die Art von Zerſetzung durchmachen laſſe, wobei ſich Kohlenſäure und Schwefelwaſſerſtoff entwickeln, und die in allen Sprachen faulen heißt; er verſicherte uns aber, die Eingeborenen laſſen den Thon niemals faulen, und ver- miſchen ihn auch weder mit Maismehl, noch mit Schildkrötenöl oder Krokodilfett. Wir ſelbſt haben ſchon am Orinoko und nach unſerer Heimkehr in Paris die mitgebrachten Kugeln unterſucht und keine Spur einer organiſchen, ſei es mehligen oder öligen Subſtanz darin gefunden. Dem Wilden gilt alles für nahrhaft, was den Hunger beſchwichtigt; fragt man daher den Otomaken, von was er in den zwei Monaten, wo der Fluß am vollſten iſt, lebe, ſo deutet er auf ſeine Letten- kugeln. Er nennt ſie ſeine Hauptnahrung, denn in dieſer Zeit bekommt er nur ſelten eine Eidechſe, eine Farnwurzel, einen toten Fiſch, der auf dem Waſſer ſchwimmt. Ißt nun der Indianer zwei Monate lang Erde aus Not (und zwar 375 bis 625 g in 24 Stunden), ſo läßt er ſie ſich doch auch das übrige Jahr ſchmecken. In der trockenen Jahreszeit, beim ergiebigſten Fiſchfang, reibt er ſeine Poyaklöße und mengt etwas Thon unter ſeine Speiſen. Das Auffallendſte iſt, daß die Otomaken nicht vom Fleiſche fallen, ſolange ſie Erde in ſo bedeutender Menge verzehren. Sie ſind im Gegenteil ſehr kräftig und haben keineswegs einen geſpannten, aufgetriebenen Bauch. Der Miſſionär Fray Ramon Bueno verſichert, er habe nie bemerkt, daß die Geſundheit der Eingeborenen während der Ueberſchwemmung des Orinoko eine Störung erlitten hätte. Das Thatſächliche, das wir ermitteln konnten, iſt ganz einfach folgendes. Die Otomaken eſſen mehrere Monate lang täglich 375 g am Feuer etwas gehärteten Letten, ohne daß ihre Geſundheit dadurch merklich leidet. Sie netzen die Erde wieder an, ehe ſie ſie verſchlucken. Es ließ ſich bis jetzt nicht genau ermitteln, wie viel nährende vegetabiliſche oder tieriſche Subſtanz ſie während dieſer Zeit in der Woche zu ſich neh- men; ſo viel iſt aber ſicher, ſie ſelbſt ſchreiben ihr Gefühl der Sättigung dem Letten zu und nicht den kümmerlichen Nah- rungsmitteln, die ſie von Zeit zu Zeit daneben genießen. Keine phyſiologiſche Erſcheinung ſteht für ſich allein da, und ſo wird es nicht ohne Intereſſe ſein, wenn ich mehrere ähn- liche Erſcheinungen, die ich zuſammengebracht, hier beſpreche.

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/132>, abgerufen am 21.11.2024.