Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.In der heißen Zone habe ich allerorten bei vielen In- Auf der Küste von Guinea essen die Neger als Lecker- In der heißen Zone habe ich allerorten bei vielen In- Auf der Küſte von Guinea eſſen die Neger als Lecker- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0133" n="125"/> <p>In der heißen Zone habe ich allerorten bei vielen In-<lb/> dividuen, bei Kindern, Weibern, zuweilen aber auch bei er-<lb/> wachſenen Männern einen abnormen, faſt unwiderſtehlichen<lb/> Trieb bemerkt, Erde zu eſſen, keineswegs alkaliſche oder kalk-<lb/> haltige Erde, um (wie man gemeiniglich glaubt) ſaure Säfte<lb/> zu neutraliſieren, ſondern einen fetten, ſchlüpfrigen, ſtark rie-<lb/> chenden Thon. Oft muß man den Kindern die Hände bin-<lb/> den oder ſie einſperren, um ſie vom Erdeeſſen abzuhalten, wenn<lb/> der Regen aufhört. Im Dorfe Banco am Magdalenenſtrom<lb/> ſah ich indianiſche Weiber, die Töpfergeſchirr verfertigen, fort-<lb/> während große Stücke Thon verzehren. Dieſelben waren<lb/> nicht ſchwanger und verſicherten, „die Erde ſei eine Speiſe,<lb/> die ihnen nicht ſchade“. Bei anderen amerikaniſchen Völker-<lb/> ſchaften werden die Menſchen bald krank und zehren aus,<lb/> wenn ſie ſich von der Sucht, Thon zu verſchlucken, zu ſehr<lb/> hinreißen laſſen. In der Miſſion San Borja ſahen wir ein<lb/> Kind von der Nation der Guahibos, das mager war wie ein<lb/> Skelett. Die Mutter ließ uns durch den Dolmetſcher ſagen,<lb/> die Abmagerung komme von unordentlicher Eßluſt her. Seit<lb/> vier Monaten wollte das kleine Mädchen faſt nichts anderes<lb/> zu ſich nehmen als Letten. Und doch ſind es nur 112 <hi rendition="#aq">km</hi><lb/> von San Borja nach Uruana, wo der Stamm der Otomaken<lb/> wohnt, die, ohne Zweifel infolge allmählicher Angewöhnung,<lb/> die <hi rendition="#g">Poya</hi> ohne Nachteil verſchlucken. Pater Gumilla be-<lb/> hauptet, trete bei den Otomaken Verſtopfung ein, ſo führen<lb/> ſie mit Krokodilöl, oder vielmehr mit geſchmolzenem Krokodil-<lb/> fett ab; aber der Miſſionär, den wir bei ihnen antrafen,<lb/> wollte hiervon nichts wiſſen. Man fragte ſich, warum in kalten<lb/> und gemäßigten Himmelsſtrichen die Sucht, Erde zu eſſen,<lb/> weit ſeltener iſt als in der heißen Zone, warum ſie in Europa<lb/> nur bei ſchwangeren Weibern und ſchwächlichen Kindern vor-<lb/> kommt? Dieſer Unterſchied zwiſchen der heißen und der ge-<lb/> mäßigten Zone rührt vielleicht nur von der Trägheit der<lb/> Funktion des Magens infolge der ſtarken Hautausdünſtung<lb/> her. Man meinte die Beobachtung zu machen, daß bei den<lb/> afrikaniſchen Sklaven der abnorme Trieb, Erde zu eſſen, zu-<lb/> nimmt und ſchädlicher wird, wenn ſie auf reine Pflanzenkoſt<lb/> geſetzt werden und man ihnen die geiſtigen Getränke entzieht.<lb/> Wird durch letztere das Letteneſſen weniger ſchädlich, ſo hätte<lb/> man den Otomaken beinahe Glück dazu zu wünſchen, daß ſie<lb/> ſo große Trunkenbolde ſind.</p><lb/> <p>Auf der Küſte von Guinea eſſen die Neger als Lecker-<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [125/0133]
In der heißen Zone habe ich allerorten bei vielen In-
dividuen, bei Kindern, Weibern, zuweilen aber auch bei er-
wachſenen Männern einen abnormen, faſt unwiderſtehlichen
Trieb bemerkt, Erde zu eſſen, keineswegs alkaliſche oder kalk-
haltige Erde, um (wie man gemeiniglich glaubt) ſaure Säfte
zu neutraliſieren, ſondern einen fetten, ſchlüpfrigen, ſtark rie-
chenden Thon. Oft muß man den Kindern die Hände bin-
den oder ſie einſperren, um ſie vom Erdeeſſen abzuhalten, wenn
der Regen aufhört. Im Dorfe Banco am Magdalenenſtrom
ſah ich indianiſche Weiber, die Töpfergeſchirr verfertigen, fort-
während große Stücke Thon verzehren. Dieſelben waren
nicht ſchwanger und verſicherten, „die Erde ſei eine Speiſe,
die ihnen nicht ſchade“. Bei anderen amerikaniſchen Völker-
ſchaften werden die Menſchen bald krank und zehren aus,
wenn ſie ſich von der Sucht, Thon zu verſchlucken, zu ſehr
hinreißen laſſen. In der Miſſion San Borja ſahen wir ein
Kind von der Nation der Guahibos, das mager war wie ein
Skelett. Die Mutter ließ uns durch den Dolmetſcher ſagen,
die Abmagerung komme von unordentlicher Eßluſt her. Seit
vier Monaten wollte das kleine Mädchen faſt nichts anderes
zu ſich nehmen als Letten. Und doch ſind es nur 112 km
von San Borja nach Uruana, wo der Stamm der Otomaken
wohnt, die, ohne Zweifel infolge allmählicher Angewöhnung,
die Poya ohne Nachteil verſchlucken. Pater Gumilla be-
hauptet, trete bei den Otomaken Verſtopfung ein, ſo führen
ſie mit Krokodilöl, oder vielmehr mit geſchmolzenem Krokodil-
fett ab; aber der Miſſionär, den wir bei ihnen antrafen,
wollte hiervon nichts wiſſen. Man fragte ſich, warum in kalten
und gemäßigten Himmelsſtrichen die Sucht, Erde zu eſſen,
weit ſeltener iſt als in der heißen Zone, warum ſie in Europa
nur bei ſchwangeren Weibern und ſchwächlichen Kindern vor-
kommt? Dieſer Unterſchied zwiſchen der heißen und der ge-
mäßigten Zone rührt vielleicht nur von der Trägheit der
Funktion des Magens infolge der ſtarken Hautausdünſtung
her. Man meinte die Beobachtung zu machen, daß bei den
afrikaniſchen Sklaven der abnorme Trieb, Erde zu eſſen, zu-
nimmt und ſchädlicher wird, wenn ſie auf reine Pflanzenkoſt
geſetzt werden und man ihnen die geiſtigen Getränke entzieht.
Wird durch letztere das Letteneſſen weniger ſchädlich, ſo hätte
man den Otomaken beinahe Glück dazu zu wünſchen, daß ſie
ſo große Trunkenbolde ſind.
Auf der Küſte von Guinea eſſen die Neger als Lecker-
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