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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

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Wirkliches zu Grunde; das vom Dorado gleicht den Mythen
des Altertums, die bei ihrer Wanderung von Land zu Lande
immer den verschiedenen Oertlichkeiten angepaßt wurden. Um
Wahrheit und Irrtum zu unterscheiden, braucht man in den
Wissenschaften meistens nur die Geschichte der Vorstellungen
und ihre allmähliche Entwickelung zu verfolgen. Die Unter-
suchung, mit der ich dieses Kapitel beschließe, ist nicht allein
deshalb von Belang, weil sie Licht verbreitet über die Vor-
gänge bei der Eroberung und über die lange Reihe unglück-
licher Expeditionen, die unternommen worden, um den Dorado
zu suchen, und deren letzte (man schämt sich, es sagen zu
müssen) in das Jahr 1775 fällt; neben diesem rein histori-
schen Interesse haben sie noch ein anderes unmittelbareres
und allgemeineres: sie können dazu dienen, die Geographie
von Südamerika zu berichtigen, und auf den Karten, die ge-
genwärtig erscheinen, die großen Seen und das seltsame Fluß-
netz auszumerzen, die wie aufs Geratewohl zwischen dem 60.
und 69. Längengrad eingezeichnet werden. In Europa glaubt
kein Mensch mehr an die Schätze in Guyana und an das
Reich des großen Patiti. Die Stadt Manoa und ihre mit
massiven Goldplatten bedeckten Paläste sind längst verschwun-
den; aber der geographische Apparat, mit dem die Sage vom
Dorado aufgeputzt war, der See Parime, in dem sich, wie
im See bei Mexiko, so viele herrliche Gebäude spiegelten,
wurde von den Geographen gewissenhaft beibehalten. Im
Laufe von drei Jahrhunderten erlitten dieselben Sagen ver-
schiedene Umwandlungen; aus Unkenntnis der amerikanischen
Sprachen hielt man Flüsse für Seen und Trageplätze für
Flußverzweigungen; man rückte einen See (den Cassipa) um
5 Breitengrade zu weit nach Süd, während man einen anderen
(den Parime oder Dorado) 450 km weit weg vom west-
lichen Ufer des Rio Branco auf das östliche versetzte. Durch
solch mancherlei Umwandlungen ist das Problem, das uns
hier vorliegt, weit verwickelter geworden, als man gewöhnlich
glaubt. Der Geographen, welche bei Entwerfung einer Karte
die drei Fundamentalpunkte, die Maße, die Vergleichung der
beschreibenden Schriften und die etymologische Untersuchung
der Namen immer im Auge haben, sind sehr wenige. Fast
alle seit 1775 erschienenen Karten von Südamerika sind, was
das Binnenland zwischen den Steppen von Venezuela und
dem Amazonenstrom, zwischen dem Ostabhang der Anden und
den Küsten von Cayenne betrifft, reine Kopieen der großen

Wirkliches zu Grunde; das vom Dorado gleicht den Mythen
des Altertums, die bei ihrer Wanderung von Land zu Lande
immer den verſchiedenen Oertlichkeiten angepaßt wurden. Um
Wahrheit und Irrtum zu unterſcheiden, braucht man in den
Wiſſenſchaften meiſtens nur die Geſchichte der Vorſtellungen
und ihre allmähliche Entwickelung zu verfolgen. Die Unter-
ſuchung, mit der ich dieſes Kapitel beſchließe, iſt nicht allein
deshalb von Belang, weil ſie Licht verbreitet über die Vor-
gänge bei der Eroberung und über die lange Reihe unglück-
licher Expeditionen, die unternommen worden, um den Dorado
zu ſuchen, und deren letzte (man ſchämt ſich, es ſagen zu
müſſen) in das Jahr 1775 fällt; neben dieſem rein hiſtori-
ſchen Intereſſe haben ſie noch ein anderes unmittelbareres
und allgemeineres: ſie können dazu dienen, die Geographie
von Südamerika zu berichtigen, und auf den Karten, die ge-
genwärtig erſcheinen, die großen Seen und das ſeltſame Fluß-
netz auszumerzen, die wie aufs Geratewohl zwiſchen dem 60.
und 69. Längengrad eingezeichnet werden. In Europa glaubt
kein Menſch mehr an die Schätze in Guyana und an das
Reich des großen Patiti. Die Stadt Manoa und ihre mit
maſſiven Goldplatten bedeckten Paläſte ſind längſt verſchwun-
den; aber der geographiſche Apparat, mit dem die Sage vom
Dorado aufgeputzt war, der See Parime, in dem ſich, wie
im See bei Mexiko, ſo viele herrliche Gebäude ſpiegelten,
wurde von den Geographen gewiſſenhaft beibehalten. Im
Laufe von drei Jahrhunderten erlitten dieſelben Sagen ver-
ſchiedene Umwandlungen; aus Unkenntnis der amerikaniſchen
Sprachen hielt man Flüſſe für Seen und Trageplätze für
Flußverzweigungen; man rückte einen See (den Caſſipa) um
5 Breitengrade zu weit nach Süd, während man einen anderen
(den Parime oder Dorado) 450 km weit weg vom weſt-
lichen Ufer des Rio Branco auf das öſtliche verſetzte. Durch
ſolch mancherlei Umwandlungen iſt das Problem, das uns
hier vorliegt, weit verwickelter geworden, als man gewöhnlich
glaubt. Der Geographen, welche bei Entwerfung einer Karte
die drei Fundamentalpunkte, die Maße, die Vergleichung der
beſchreibenden Schriften und die etymologiſche Unterſuchung
der Namen immer im Auge haben, ſind ſehr wenige. Faſt
alle ſeit 1775 erſchienenen Karten von Südamerika ſind, was
das Binnenland zwiſchen den Steppen von Venezuela und
dem Amazonenſtrom, zwiſchen dem Oſtabhang der Anden und
den Küſten von Cayenne betrifft, reine Kopieen der großen

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[187/0195] Wirkliches zu Grunde; das vom Dorado gleicht den Mythen des Altertums, die bei ihrer Wanderung von Land zu Lande immer den verſchiedenen Oertlichkeiten angepaßt wurden. Um Wahrheit und Irrtum zu unterſcheiden, braucht man in den Wiſſenſchaften meiſtens nur die Geſchichte der Vorſtellungen und ihre allmähliche Entwickelung zu verfolgen. Die Unter- ſuchung, mit der ich dieſes Kapitel beſchließe, iſt nicht allein deshalb von Belang, weil ſie Licht verbreitet über die Vor- gänge bei der Eroberung und über die lange Reihe unglück- licher Expeditionen, die unternommen worden, um den Dorado zu ſuchen, und deren letzte (man ſchämt ſich, es ſagen zu müſſen) in das Jahr 1775 fällt; neben dieſem rein hiſtori- ſchen Intereſſe haben ſie noch ein anderes unmittelbareres und allgemeineres: ſie können dazu dienen, die Geographie von Südamerika zu berichtigen, und auf den Karten, die ge- genwärtig erſcheinen, die großen Seen und das ſeltſame Fluß- netz auszumerzen, die wie aufs Geratewohl zwiſchen dem 60. und 69. Längengrad eingezeichnet werden. In Europa glaubt kein Menſch mehr an die Schätze in Guyana und an das Reich des großen Patiti. Die Stadt Manoa und ihre mit maſſiven Goldplatten bedeckten Paläſte ſind längſt verſchwun- den; aber der geographiſche Apparat, mit dem die Sage vom Dorado aufgeputzt war, der See Parime, in dem ſich, wie im See bei Mexiko, ſo viele herrliche Gebäude ſpiegelten, wurde von den Geographen gewiſſenhaft beibehalten. Im Laufe von drei Jahrhunderten erlitten dieſelben Sagen ver- ſchiedene Umwandlungen; aus Unkenntnis der amerikaniſchen Sprachen hielt man Flüſſe für Seen und Trageplätze für Flußverzweigungen; man rückte einen See (den Caſſipa) um 5 Breitengrade zu weit nach Süd, während man einen anderen (den Parime oder Dorado) 450 km weit weg vom weſt- lichen Ufer des Rio Branco auf das öſtliche verſetzte. Durch ſolch mancherlei Umwandlungen iſt das Problem, das uns hier vorliegt, weit verwickelter geworden, als man gewöhnlich glaubt. Der Geographen, welche bei Entwerfung einer Karte die drei Fundamentalpunkte, die Maße, die Vergleichung der beſchreibenden Schriften und die etymologiſche Unterſuchung der Namen immer im Auge haben, ſind ſehr wenige. Faſt alle ſeit 1775 erſchienenen Karten von Südamerika ſind, was das Binnenland zwiſchen den Steppen von Venezuela und dem Amazonenſtrom, zwiſchen dem Oſtabhang der Anden und den Küſten von Cayenne betrifft, reine Kopieen der großen

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 187. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/195>, abgerufen am 21.11.2024.