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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

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dernissen ihres Wohlergehens einzurichten. Man hört immer
wieder behaupten, die Hispano-Amerikaner seien für freie In-
stitutionen nicht weit genug in der Kultur vorgeschritten. Es
ist noch nicht lange her, so sagte man dasselbe von anderen
Völkern aus, bei denen aber die Civilisation überreif sein
sollte. Die Erfahrung lehrt, daß bei Nationen wie beim
einzelnen das Glück ohne Talent und Wissen bestehen kann;
aber ohne leugnen zu wollen, daß ein gewisser Grad von
Aufklärung und Volksbildung zum Bestand von Republiken
und konstitutionellen Monarchieen unentbehrlich ist, sind wir
der Ansicht, daß dieser Bestand lange nicht so sehr vom
Grade der geistigen Bildung abhängt, als von der Stärke
des Volkscharakters, vom Verein von Thatkraft und Ruhe,
von Leidenschaftlichkeit und Geduld, der eine Verfassung auf-
recht und am Leben erhält, ferner von den örtlichen Zu-
ständen, in denen sich das Volk befindet, und von den politi-
schen Verhältnissen zwischen einem Staate und seinen Nachbar-
staaten.

Wenn die heutigen Kolonieen nach ihrer Emanzipation
mehr oder weniger zu republikanischer Verfassungsform hin-
neigen, so ist die Ursache dieser Erscheinung nicht allein im
Nachahmungstrieb zu suchen, der bei Volksmassen noch mäch-
tiger ist als beim einzelnen; sie liegt vielmehr zunächst im eigen-
tümlichen Verhältnis, in dem eine Gesellschaft sich befindet,
die sich auf einmal von einer Welt mit älterer Kultur los-
getrennt, aller äußeren Bande entledigt sieht und aus Indi-
viduen besteht, die nicht einer Kaste das Uebergewicht im
Staate zugestehen. Durch die Vorrechte, welche das Mutter-
land einer sehr beschränkten Anzahl von Familien in Amerika
erteilte, hat sich dort durchaus nicht gebildet, was in Europa
eine Adelsaristokratie heißt. Die Freiheit mag in Anarchie
oder durch die vorübergehende Usurpation eines verwegenen
Parteihauptes zu Grunde gehen, aber die wahren Grundlagen
der Monarchie sind im Schoße der heutigen Kolonieen nir-
gends zu finden. Nach Brasilien wurden sie von außen her-
eingebracht zur Zeit, da dieses gewaltige Land des tiefsten
Friedens genoß, während das Mutterland unter ein fremdes
Joch geraten war.

Ueberdenkt man die Verkettung menschlicher Geschicke, so
sieht man leicht ein, wie die Existenz der heutigen Kolonieen,
oder vielmehr wie die Entdeckung eines halb menschenleeren
Kontinents, auf dem allein eine so erstaunliche Entwickelung

derniſſen ihres Wohlergehens einzurichten. Man hört immer
wieder behaupten, die Hiſpano-Amerikaner ſeien für freie In-
ſtitutionen nicht weit genug in der Kultur vorgeſchritten. Es
iſt noch nicht lange her, ſo ſagte man dasſelbe von anderen
Völkern aus, bei denen aber die Civiliſation überreif ſein
ſollte. Die Erfahrung lehrt, daß bei Nationen wie beim
einzelnen das Glück ohne Talent und Wiſſen beſtehen kann;
aber ohne leugnen zu wollen, daß ein gewiſſer Grad von
Aufklärung und Volksbildung zum Beſtand von Republiken
und konſtitutionellen Monarchieen unentbehrlich iſt, ſind wir
der Anſicht, daß dieſer Beſtand lange nicht ſo ſehr vom
Grade der geiſtigen Bildung abhängt, als von der Stärke
des Volkscharakters, vom Verein von Thatkraft und Ruhe,
von Leidenſchaftlichkeit und Geduld, der eine Verfaſſung auf-
recht und am Leben erhält, ferner von den örtlichen Zu-
ſtänden, in denen ſich das Volk befindet, und von den politi-
ſchen Verhältniſſen zwiſchen einem Staate und ſeinen Nachbar-
ſtaaten.

Wenn die heutigen Kolonieen nach ihrer Emanzipation
mehr oder weniger zu republikaniſcher Verfaſſungsform hin-
neigen, ſo iſt die Urſache dieſer Erſcheinung nicht allein im
Nachahmungstrieb zu ſuchen, der bei Volksmaſſen noch mäch-
tiger iſt als beim einzelnen; ſie liegt vielmehr zunächſt im eigen-
tümlichen Verhältnis, in dem eine Geſellſchaft ſich befindet,
die ſich auf einmal von einer Welt mit älterer Kultur los-
getrennt, aller äußeren Bande entledigt ſieht und aus Indi-
viduen beſteht, die nicht einer Kaſte das Uebergewicht im
Staate zugeſtehen. Durch die Vorrechte, welche das Mutter-
land einer ſehr beſchränkten Anzahl von Familien in Amerika
erteilte, hat ſich dort durchaus nicht gebildet, was in Europa
eine Adelsariſtokratie heißt. Die Freiheit mag in Anarchie
oder durch die vorübergehende Uſurpation eines verwegenen
Parteihauptes zu Grunde gehen, aber die wahren Grundlagen
der Monarchie ſind im Schoße der heutigen Kolonieen nir-
gends zu finden. Nach Braſilien wurden ſie von außen her-
eingebracht zur Zeit, da dieſes gewaltige Land des tiefſten
Friedens genoß, während das Mutterland unter ein fremdes
Joch geraten war.

Ueberdenkt man die Verkettung menſchlicher Geſchicke, ſo
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[291/0299] derniſſen ihres Wohlergehens einzurichten. Man hört immer wieder behaupten, die Hiſpano-Amerikaner ſeien für freie In- ſtitutionen nicht weit genug in der Kultur vorgeſchritten. Es iſt noch nicht lange her, ſo ſagte man dasſelbe von anderen Völkern aus, bei denen aber die Civiliſation überreif ſein ſollte. Die Erfahrung lehrt, daß bei Nationen wie beim einzelnen das Glück ohne Talent und Wiſſen beſtehen kann; aber ohne leugnen zu wollen, daß ein gewiſſer Grad von Aufklärung und Volksbildung zum Beſtand von Republiken und konſtitutionellen Monarchieen unentbehrlich iſt, ſind wir der Anſicht, daß dieſer Beſtand lange nicht ſo ſehr vom Grade der geiſtigen Bildung abhängt, als von der Stärke des Volkscharakters, vom Verein von Thatkraft und Ruhe, von Leidenſchaftlichkeit und Geduld, der eine Verfaſſung auf- recht und am Leben erhält, ferner von den örtlichen Zu- ſtänden, in denen ſich das Volk befindet, und von den politi- ſchen Verhältniſſen zwiſchen einem Staate und ſeinen Nachbar- ſtaaten. Wenn die heutigen Kolonieen nach ihrer Emanzipation mehr oder weniger zu republikaniſcher Verfaſſungsform hin- neigen, ſo iſt die Urſache dieſer Erſcheinung nicht allein im Nachahmungstrieb zu ſuchen, der bei Volksmaſſen noch mäch- tiger iſt als beim einzelnen; ſie liegt vielmehr zunächſt im eigen- tümlichen Verhältnis, in dem eine Geſellſchaft ſich befindet, die ſich auf einmal von einer Welt mit älterer Kultur los- getrennt, aller äußeren Bande entledigt ſieht und aus Indi- viduen beſteht, die nicht einer Kaſte das Uebergewicht im Staate zugeſtehen. Durch die Vorrechte, welche das Mutter- land einer ſehr beſchränkten Anzahl von Familien in Amerika erteilte, hat ſich dort durchaus nicht gebildet, was in Europa eine Adelsariſtokratie heißt. Die Freiheit mag in Anarchie oder durch die vorübergehende Uſurpation eines verwegenen Parteihauptes zu Grunde gehen, aber die wahren Grundlagen der Monarchie ſind im Schoße der heutigen Kolonieen nir- gends zu finden. Nach Braſilien wurden ſie von außen her- eingebracht zur Zeit, da dieſes gewaltige Land des tiefſten Friedens genoß, während das Mutterland unter ein fremdes Joch geraten war. Ueberdenkt man die Verkettung menſchlicher Geſchicke, ſo ſieht man leicht ein, wie die Exiſtenz der heutigen Kolonieen, oder vielmehr wie die Entdeckung eines halb menſchenleeren Kontinents, auf dem allein eine ſo erſtaunliche Entwickelung

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 291. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/299>, abgerufen am 22.11.2024.