Geburten zu befruchten, jede Schönheit in seine Individualität zu verwandeln, und, mit jeder sein ganzes Wesen gattend, neue Schönheit zu erzeugen strebt; der kann das befriedigende Bewusstsein nähren, auf dem richtigen Wege zu sein, dem Ideale sich zu nahen, das selbst die kühnste Phantasie der Menschheit vorzuzeichnen wagt.
Ich habe durch dies, an und für sich politischen Unter- suchungen ziemlich fremdartige, allein in der von mir gewähl- ten Folge der Ideen nothwendige Gemälde zu zeigen versucht, wie die Sinnlichkeit, mit ihren heilsamen Folgen, durch das ganze Leben, und alle Beschäftigungen des Menschen ver- flochten ist. Ihr dadurch Freiheit und Achtung zu erwerben, war meine Absicht. Vergessen darf ich indess nicht, dass gerade die Sinnlichkeit auch die Quelle einer grossen Menge physischer und moralischer Uebel ist. Selbst moralisch nur dann heilsam, wenn sie in richtigem Verhältniss mit der Uebung der geistigen Kräfte steht, erhält sie so leicht ein schädliches Uebergewicht. Dann wird menschliche Freude thierischer Genuss, der Geschmack verschwindet, oder erhält unnatürliche Richtungen. Bei diesem letzteren Ausdruck kann ich mich jedoch nicht enthalten, vorzüglich in Hinsicht auf gewisse einseitige Beurtheilungen, noch zu bemerken, dass nicht unnatürlich heissen muss, was nicht gerade diesen oder jenen Zweck der Natur erfüllt, sondern was den allgemeinen Endzweck derselben mit dem Menschen vereitelt. Dieser aber ist, dass sein Wesen sich zu immer höherer Vollkommenheit bilde, und daher vorzüglich, dass seine denkende und empfin- dende Kraft, beide in verhältnissmässigen Graden der Stärke, sich unzertrennlich vereinen. Es kann aber ferner ein Miss- verhältniss entstehen, zwischen der Art, wie der Mensch seine Kräfte ausbildet, und überhaupt in Thätigkeit setzt, und zwi- schen den Mitteln des Wirkens und Geniessens, die seine Lage ihm darbietet, und dies Missverhältniss ist eine neue Quelle von
Geburten zu befruchten, jede Schönheit in seine Individualität zu verwandeln, und, mit jeder sein ganzes Wesen gattend, neue Schönheit zu erzeugen strebt; der kann das befriedigende Bewusstsein nähren, auf dem richtigen Wege zu sein, dem Ideale sich zu nahen, das selbst die kühnste Phantasie der Menschheit vorzuzeichnen wagt.
Ich habe durch dies, an und für sich politischen Unter- suchungen ziemlich fremdartige, allein in der von mir gewähl- ten Folge der Ideen nothwendige Gemälde zu zeigen versucht, wie die Sinnlichkeit, mit ihren heilsamen Folgen, durch das ganze Leben, und alle Beschäftigungen des Menschen ver- flochten ist. Ihr dadurch Freiheit und Achtung zu erwerben, war meine Absicht. Vergessen darf ich indess nicht, dass gerade die Sinnlichkeit auch die Quelle einer grossen Menge physischer und moralischer Uebel ist. Selbst moralisch nur dann heilsam, wenn sie in richtigem Verhältniss mit der Uebung der geistigen Kräfte steht, erhält sie so leicht ein schädliches Uebergewicht. Dann wird menschliche Freude thierischer Genuss, der Geschmack verschwindet, oder erhält unnatürliche Richtungen. Bei diesem letzteren Ausdruck kann ich mich jedoch nicht enthalten, vorzüglich in Hinsicht auf gewisse einseitige Beurtheilungen, noch zu bemerken, dass nicht unnatürlich heissen muss, was nicht gerade diesen oder jenen Zweck der Natur erfüllt, sondern was den allgemeinen Endzweck derselben mit dem Menschen vereitelt. Dieser aber ist, dass sein Wesen sich zu immer höherer Vollkommenheit bilde, und daher vorzüglich, dass seine denkende und empfin- dende Kraft, beide in verhältnissmässigen Graden der Stärke, sich unzertrennlich vereinen. Es kann aber ferner ein Miss- verhältniss entstehen, zwischen der Art, wie der Mensch seine Kräfte ausbildet, und überhaupt in Thätigkeit setzt, und zwi- schen den Mitteln des Wirkens und Geniessens, die seine Lage ihm darbietet, und dies Missverhältniss ist eine neue Quelle von
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Geburten zu befruchten, jede Schönheit in seine Individualität
zu verwandeln, und, mit jeder sein ganzes Wesen gattend, neue
Schönheit zu erzeugen strebt; der kann das befriedigende
Bewusstsein nähren, auf dem richtigen Wege zu sein, dem
Ideale sich zu nahen, das selbst die kühnste Phantasie der
Menschheit vorzuzeichnen wagt.
Ich habe durch dies, an und für sich politischen Unter-
suchungen ziemlich fremdartige, allein in der von mir gewähl-
ten Folge der Ideen nothwendige Gemälde zu zeigen versucht,
wie die Sinnlichkeit, mit ihren heilsamen Folgen, durch das
ganze Leben, und alle Beschäftigungen des Menschen ver-
flochten ist. Ihr dadurch Freiheit und Achtung zu erwerben,
war meine Absicht. Vergessen darf ich indess nicht, dass
gerade die Sinnlichkeit auch die Quelle einer grossen Menge
physischer und moralischer Uebel ist. Selbst moralisch nur
dann heilsam, wenn sie in richtigem Verhältniss mit der
Uebung der geistigen Kräfte steht, erhält sie so leicht ein
schädliches Uebergewicht. Dann wird menschliche Freude
thierischer Genuss, der Geschmack verschwindet, oder erhält
unnatürliche Richtungen. Bei diesem letzteren Ausdruck kann
ich mich jedoch nicht enthalten, vorzüglich in Hinsicht auf
gewisse einseitige Beurtheilungen, noch zu bemerken, dass
nicht unnatürlich heissen muss, was nicht gerade diesen oder
jenen Zweck der Natur erfüllt, sondern was den allgemeinen
Endzweck derselben mit dem Menschen vereitelt. Dieser aber
ist, dass sein Wesen sich zu immer höherer Vollkommenheit
bilde, und daher vorzüglich, dass seine denkende und empfin-
dende Kraft, beide in verhältnissmässigen Graden der Stärke,
sich unzertrennlich vereinen. Es kann aber ferner ein Miss-
verhältniss entstehen, zwischen der Art, wie der Mensch seine
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Wilhelm von Humboldt schrieb seine 'Ideen zu eine… [mehr]
Wilhelm von Humboldt schrieb seine 'Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen' zwischen März und Mai des Jahres 1792 nieder. Einzelne Abschnitte wurden im selben Jahr in Friedrich Schillers Thalia bzw. in der Berlinischen Monatsschrift gedruckt. Der gesamte Text wurde jedoch erst postum, 1851, aus dem Nachlass publiziert (Wilhelm von Humboldt † 8. April 1835). Gemäß den Richtlinien des DTA wurde diese Ausgabe digitalisiert.
Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851/132>, abgerufen am 16.02.2025.
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