Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Hundt-Radowsky, Hartwig: Die Judenschule, oder gründliche Anleitung, in kurzer Zeit ein vollkommener schwarzer oder weißer Jude zu werden. Bd. 1. Jerusalem [i. e. Aarau], 1822.

Bild:
<< vorherige Seite

lohnt, wenn er einen Unglücklichen retten, einen
Leidenden trösten, einen Betrübten erfreuen kann?
Wer wird den Mann nicht lieben, nicht ehren, der
seinem Feinde freundlich und brüderlich die Hand
zur Versöhnung reicht, und wenn denselben hungert
und dürstet, gerne seinen Labetrunk und seinen letz-
ten Bissen Brods mit ihm theilt? So ist der Sinn
und die Empfänglichkeit nicht nur für diese, sondern
für alle Tugenden, welche der Heiland uns lehrte,
in unsere Brust gepflanzt. Seine Religion war
unter allen die göttlichste und die mensch-
lichste
zugleich. Nur ein verderbtes Gemüth kann ih-
re Göttlichkeit bezweifeln; nur ein verstocktes Herz
fodert übernatürliche Beweise derselben, weil das
Göttliche ihm fremd oder doch entfremdet ist.

Ja wahrlich! Das Christenthum war die köst-
lichste Blume des Himmels, welche jemals auf Er-
den verpflanzt ward; aber der Boden und die Jahr-
zeit waren zu rauh, die ersten Pfleger zu unwissend
und roh, als daß sie in himmlischer Schöne so hät-
te aufblühen können, wie der erhabene Gärtner es
wünschte. Hätten sich in den Jahrhunderten unter
den Verbreitern des Christenthums Menschen befun-
den, die an Kraft, Geist und Sinnesreinheit dem
göttlichen Erlöser näher und inniger verwandt ge-
wesen wären; gewiß hätte es sich dann länger in
seiner einfachen Urschönheit erhalten; aber schwerlich
würde es sich so schnell ausgebreitet haben, als es
durch irdischen Prunk, glänzende Formen und kalte

lohnt, wenn er einen Ungluͤcklichen retten, einen
Leidenden troͤſten, einen Betruͤbten erfreuen kann?
Wer wird den Mann nicht lieben, nicht ehren, der
ſeinem Feinde freundlich und bruͤderlich die Hand
zur Verſoͤhnung reicht, und wenn denſelben hungert
und duͤrſtet, gerne ſeinen Labetrunk und ſeinen letz-
ten Biſſen Brods mit ihm theilt? So iſt der Sinn
und die Empfaͤnglichkeit nicht nur fuͤr dieſe, ſondern
fuͤr alle Tugenden, welche der Heiland uns lehrte,
in unſere Bruſt gepflanzt. Seine Religion war
unter allen die goͤttlichſte und die menſch-
lichſte
zugleich. Nur ein verderbtes Gemuͤth kann ih-
re Goͤttlichkeit bezweifeln; nur ein verſtocktes Herz
fodert uͤbernatuͤrliche Beweiſe derſelben, weil das
Goͤttliche ihm fremd oder doch entfremdet iſt.

Ja wahrlich! Das Chriſtenthum war die koͤſt-
lichſte Blume des Himmels, welche jemals auf Er-
den verpflanzt ward; aber der Boden und die Jahr-
zeit waren zu rauh, die erſten Pfleger zu unwiſſend
und roh, als daß ſie in himmliſcher Schoͤne ſo haͤt-
te aufbluͤhen koͤnnen, wie der erhabene Gaͤrtner es
wuͤnſchte. Haͤtten ſich in den Jahrhunderten unter
den Verbreitern des Chriſtenthums Menſchen befun-
den, die an Kraft, Geiſt und Sinnesreinheit dem
goͤttlichen Erloͤſer naͤher und inniger verwandt ge-
weſen waͤren; gewiß haͤtte es ſich dann laͤnger in
ſeiner einfachen Urſchoͤnheit erhalten; aber ſchwerlich
wuͤrde es ſich ſo ſchnell ausgebreitet haben, als es
durch irdiſchen Prunk, glaͤnzende Formen und kalte

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0064" n="30"/>
lohnt, wenn er einen Unglu&#x0364;cklichen retten, einen<lb/>
Leidenden tro&#x0364;&#x017F;ten, einen Betru&#x0364;bten erfreuen kann?<lb/>
Wer wird den Mann nicht lieben, nicht ehren, der<lb/>
&#x017F;einem Feinde freundlich und bru&#x0364;derlich die Hand<lb/>
zur Ver&#x017F;o&#x0364;hnung reicht, und wenn den&#x017F;elben hungert<lb/>
und du&#x0364;r&#x017F;tet, gerne &#x017F;einen Labetrunk und &#x017F;einen letz-<lb/>
ten Bi&#x017F;&#x017F;en Brods mit ihm theilt? So i&#x017F;t der Sinn<lb/>
und die Empfa&#x0364;nglichkeit nicht nur fu&#x0364;r die&#x017F;e, &#x017F;ondern<lb/>
fu&#x0364;r alle Tugenden, welche der Heiland uns lehrte,<lb/>
in un&#x017F;ere Bru&#x017F;t gepflanzt. Seine Religion war<lb/>
unter allen die <hi rendition="#g">go&#x0364;ttlich&#x017F;te</hi> und die <hi rendition="#g">men&#x017F;ch-<lb/>
lich&#x017F;te</hi> zugleich. Nur ein verderbtes Gemu&#x0364;th kann ih-<lb/>
re Go&#x0364;ttlichkeit bezweifeln; nur ein ver&#x017F;tocktes Herz<lb/>
fodert u&#x0364;bernatu&#x0364;rliche Bewei&#x017F;e der&#x017F;elben, weil das<lb/>
Go&#x0364;ttliche ihm fremd oder doch <hi rendition="#g">entfremdet</hi> i&#x017F;t.</p><lb/>
        <p>Ja wahrlich! Das Chri&#x017F;tenthum war die ko&#x0364;&#x017F;t-<lb/>
lich&#x017F;te Blume des Himmels, welche jemals auf Er-<lb/>
den verpflanzt ward; aber der Boden und die Jahr-<lb/>
zeit waren zu rauh, die er&#x017F;ten Pfleger zu unwi&#x017F;&#x017F;end<lb/>
und roh, als daß &#x017F;ie in himmli&#x017F;cher Scho&#x0364;ne &#x017F;o ha&#x0364;t-<lb/>
te aufblu&#x0364;hen ko&#x0364;nnen, wie der erhabene Ga&#x0364;rtner es<lb/>
wu&#x0364;n&#x017F;chte. Ha&#x0364;tten &#x017F;ich in den Jahrhunderten unter<lb/>
den Verbreitern des Chri&#x017F;tenthums Men&#x017F;chen befun-<lb/>
den, die an Kraft, Gei&#x017F;t und Sinnesreinheit dem<lb/>
go&#x0364;ttlichen Erlo&#x0364;&#x017F;er na&#x0364;her und inniger verwandt ge-<lb/>
we&#x017F;en wa&#x0364;ren; gewiß ha&#x0364;tte es &#x017F;ich dann la&#x0364;nger in<lb/>
&#x017F;einer einfachen Ur&#x017F;cho&#x0364;nheit erhalten; aber &#x017F;chwerlich<lb/>
wu&#x0364;rde es &#x017F;ich &#x017F;o &#x017F;chnell ausgebreitet haben, als es<lb/>
durch irdi&#x017F;chen Prunk, gla&#x0364;nzende Formen und kalte<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[30/0064] lohnt, wenn er einen Ungluͤcklichen retten, einen Leidenden troͤſten, einen Betruͤbten erfreuen kann? Wer wird den Mann nicht lieben, nicht ehren, der ſeinem Feinde freundlich und bruͤderlich die Hand zur Verſoͤhnung reicht, und wenn denſelben hungert und duͤrſtet, gerne ſeinen Labetrunk und ſeinen letz- ten Biſſen Brods mit ihm theilt? So iſt der Sinn und die Empfaͤnglichkeit nicht nur fuͤr dieſe, ſondern fuͤr alle Tugenden, welche der Heiland uns lehrte, in unſere Bruſt gepflanzt. Seine Religion war unter allen die goͤttlichſte und die menſch- lichſte zugleich. Nur ein verderbtes Gemuͤth kann ih- re Goͤttlichkeit bezweifeln; nur ein verſtocktes Herz fodert uͤbernatuͤrliche Beweiſe derſelben, weil das Goͤttliche ihm fremd oder doch entfremdet iſt. Ja wahrlich! Das Chriſtenthum war die koͤſt- lichſte Blume des Himmels, welche jemals auf Er- den verpflanzt ward; aber der Boden und die Jahr- zeit waren zu rauh, die erſten Pfleger zu unwiſſend und roh, als daß ſie in himmliſcher Schoͤne ſo haͤt- te aufbluͤhen koͤnnen, wie der erhabene Gaͤrtner es wuͤnſchte. Haͤtten ſich in den Jahrhunderten unter den Verbreitern des Chriſtenthums Menſchen befun- den, die an Kraft, Geiſt und Sinnesreinheit dem goͤttlichen Erloͤſer naͤher und inniger verwandt ge- weſen waͤren; gewiß haͤtte es ſich dann laͤnger in ſeiner einfachen Urſchoͤnheit erhalten; aber ſchwerlich wuͤrde es ſich ſo ſchnell ausgebreitet haben, als es durch irdiſchen Prunk, glaͤnzende Formen und kalte

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/hundtradowsky_judenschule01_1822
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/hundtradowsky_judenschule01_1822/64
Zitationshilfe: Hundt-Radowsky, Hartwig: Die Judenschule, oder gründliche Anleitung, in kurzer Zeit ein vollkommener schwarzer oder weißer Jude zu werden. Bd. 1. Jerusalem [i. e. Aarau], 1822, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hundtradowsky_judenschule01_1822/64>, abgerufen am 21.11.2024.