Immermann, Karl: Der Carneval und die Somnambüle. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 5. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 139–273. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Umsonst, es lag auf ihrer Brust, wie ein Berg. Gegen Abend besuchte sie der Bruder. Sie hatte nicht Luft zu reden, und bat ihn, ihr etwas vorzulesen. Er kramte umher, endlich fand er einen Band und wollte beginnen, als sie, den Titel auf dem Rücken des Buches erblickend, ausrief: Um Gotteswillen, was machst du? Das sind ja die Wahlverwandtschaften! -- Nun, sagte er lachend, was ist dabei? Es ist ein Buch wie die andern. -- Ich bitte dich! rief sie, von Schauder geschüttelt, nimm es mit, daß ich es nie wiedersehe. Wenn du wüßtest, welche Erinnerungen sich an dieses Buch knüpfen! Hier steht vorn auf dem weißen Blatte der Name des Gebers! sagte er in seiner kaltblütigen Art. Seiner Freundin Adolphine der Marquis... Ich kann den Namen nicht lesen. Florenz.... Was für ein Marquis war das? Du hast ja nie von einem Marquis gesprochen, den du in Italien gekannt. Es war eine flüchtige Bekanntschaft! versetzte sie erröthend und erbleichend. Mir ist nicht wohl, Bruder; schlafe wohl! Nimm die Wahlverwandtschaften mit, ich schenke sie dir. Es wird früh genug Alles kommen, wie es in dem Buche steht. Er lachte über diese Melancholie. Wenn du nicht so vernünftig wärst, sagte er, so würde ich glauben, du wolltest dich auch, wie so viele Weiber jetzt, mit deinen Nerven interessant machen. Wo ist dein Mann? -- Verreist nach den Fabriken im Gebirge; so sagte er, versetzte sie. Ich glaube aber, er ist ganz wo anders hin. Umsonst, es lag auf ihrer Brust, wie ein Berg. Gegen Abend besuchte sie der Bruder. Sie hatte nicht Luft zu reden, und bat ihn, ihr etwas vorzulesen. Er kramte umher, endlich fand er einen Band und wollte beginnen, als sie, den Titel auf dem Rücken des Buches erblickend, ausrief: Um Gotteswillen, was machst du? Das sind ja die Wahlverwandtschaften! — Nun, sagte er lachend, was ist dabei? Es ist ein Buch wie die andern. — Ich bitte dich! rief sie, von Schauder geschüttelt, nimm es mit, daß ich es nie wiedersehe. Wenn du wüßtest, welche Erinnerungen sich an dieses Buch knüpfen! Hier steht vorn auf dem weißen Blatte der Name des Gebers! sagte er in seiner kaltblütigen Art. Seiner Freundin Adolphine der Marquis... Ich kann den Namen nicht lesen. Florenz.... Was für ein Marquis war das? Du hast ja nie von einem Marquis gesprochen, den du in Italien gekannt. Es war eine flüchtige Bekanntschaft! versetzte sie erröthend und erbleichend. Mir ist nicht wohl, Bruder; schlafe wohl! Nimm die Wahlverwandtschaften mit, ich schenke sie dir. Es wird früh genug Alles kommen, wie es in dem Buche steht. Er lachte über diese Melancholie. Wenn du nicht so vernünftig wärst, sagte er, so würde ich glauben, du wolltest dich auch, wie so viele Weiber jetzt, mit deinen Nerven interessant machen. Wo ist dein Mann? — Verreist nach den Fabriken im Gebirge; so sagte er, versetzte sie. Ich glaube aber, er ist ganz wo anders hin. <TEI> <text> <body> <div n="21"> <p><pb facs="#f0121"/> Umsonst, es lag auf ihrer Brust, wie ein Berg. Gegen Abend besuchte sie der Bruder. Sie hatte nicht Luft zu reden, und bat ihn, ihr etwas vorzulesen. Er kramte umher, endlich fand er einen Band und wollte beginnen, als sie, den Titel auf dem Rücken des Buches erblickend, ausrief: Um Gotteswillen, was machst du? Das sind ja die Wahlverwandtschaften! — Nun, sagte er lachend, was ist dabei? Es ist ein Buch wie die andern. — Ich bitte dich! rief sie, von Schauder geschüttelt, nimm es mit, daß ich es nie wiedersehe. Wenn du wüßtest, welche Erinnerungen sich an dieses Buch knüpfen!</p><lb/> <p>Hier steht vorn auf dem weißen Blatte der Name des Gebers! sagte er in seiner kaltblütigen Art. Seiner Freundin Adolphine der Marquis... Ich kann den Namen nicht lesen. Florenz.... Was für ein Marquis war das? Du hast ja nie von einem Marquis gesprochen, den du in Italien gekannt.</p><lb/> <p>Es war eine flüchtige Bekanntschaft! versetzte sie erröthend und erbleichend. Mir ist nicht wohl, Bruder; schlafe wohl! Nimm die Wahlverwandtschaften mit, ich schenke sie dir. Es wird früh genug Alles kommen, wie es in dem Buche steht.</p><lb/> <p>Er lachte über diese Melancholie. Wenn du nicht so vernünftig wärst, sagte er, so würde ich glauben, du wolltest dich auch, wie so viele Weiber jetzt, mit deinen Nerven interessant machen. Wo ist dein Mann? — Verreist nach den Fabriken im Gebirge; so sagte er, versetzte sie. Ich glaube aber, er ist ganz wo anders hin.</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [0121]
Umsonst, es lag auf ihrer Brust, wie ein Berg. Gegen Abend besuchte sie der Bruder. Sie hatte nicht Luft zu reden, und bat ihn, ihr etwas vorzulesen. Er kramte umher, endlich fand er einen Band und wollte beginnen, als sie, den Titel auf dem Rücken des Buches erblickend, ausrief: Um Gotteswillen, was machst du? Das sind ja die Wahlverwandtschaften! — Nun, sagte er lachend, was ist dabei? Es ist ein Buch wie die andern. — Ich bitte dich! rief sie, von Schauder geschüttelt, nimm es mit, daß ich es nie wiedersehe. Wenn du wüßtest, welche Erinnerungen sich an dieses Buch knüpfen!
Hier steht vorn auf dem weißen Blatte der Name des Gebers! sagte er in seiner kaltblütigen Art. Seiner Freundin Adolphine der Marquis... Ich kann den Namen nicht lesen. Florenz.... Was für ein Marquis war das? Du hast ja nie von einem Marquis gesprochen, den du in Italien gekannt.
Es war eine flüchtige Bekanntschaft! versetzte sie erröthend und erbleichend. Mir ist nicht wohl, Bruder; schlafe wohl! Nimm die Wahlverwandtschaften mit, ich schenke sie dir. Es wird früh genug Alles kommen, wie es in dem Buche steht.
Er lachte über diese Melancholie. Wenn du nicht so vernünftig wärst, sagte er, so würde ich glauben, du wolltest dich auch, wie so viele Weiber jetzt, mit deinen Nerven interessant machen. Wo ist dein Mann? — Verreist nach den Fabriken im Gebirge; so sagte er, versetzte sie. Ich glaube aber, er ist ganz wo anders hin.
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Zitationshilfe: | Immermann, Karl: Der Carneval und die Somnambüle. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 5. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 139–273. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/immermann_carneval_1910/121>, abgerufen am 16.02.2025. |