Anblick einer Sache kan in ihnen eine solche Begierde erwecken, daß sie wei- nen, ja eine nicht geringe Raserey sehen lassen, wenn ihnen nicht so gleich gege- ben wird, was sie verlangen. Niemand unter den Sterblichen kan sich rühmen, daß er die Geneigtheit zu den geschwin- den und heftigen Aufwallungen des Ge- müths gäntzlich weggeschaft. Wenige können nur sagen, daß sie dieses Feuer der wilden Begierden dergestalt gemäßi- get, daß es nicht bey einer jeden Gele- genheit in die grösten Flammen aus- bricht. Da nun die Seele so leicht bey den Empfindungen in die heftigsten Be- wegungen gesetzt wird, wie ist es möglich, daß der Verstand Raum behält, die Dinge, so er durch die Sinne empfin- det, vernünftig zu überlegen, und von ih- rem Wehrte richtig zu urtheilen? Ehe der Verstand die Beschaffenheit der Dinge, so unsere Sinne rühren, unter- sucht, so sind die sinnlichen Begierden schon in voller Bewegung und hemmen den Gebrauch der Vernunft, ohne wel- che der Wille doch nichts wehlen solte. Wer da weiß, wie sehr die heftigen Lei- denschaften den Verstand in seinen Würckungen hindern, der wird aus dem, was gesagt worden, begreiffen, warum derselbe besonders in geistlichen
Din-
Anblick einer Sache kan in ihnen eine ſolche Begierde erwecken, daß ſie wei- nen, ja eine nicht geringe Raſerey ſehen laſſen, wenn ihnen nicht ſo gleich gege- ben wird, was ſie verlangen. Niemand unter den Sterblichen kan ſich ruͤhmen, daß er die Geneigtheit zu den geſchwin- den und heftigen Aufwallungen des Ge- muͤths gaͤntzlich weggeſchaft. Wenige koͤnnen nur ſagen, daß ſie dieſes Feuer der wilden Begierden dergeſtalt gemaͤßi- get, daß es nicht bey einer jeden Gele- genheit in die groͤſten Flammen aus- bricht. Da nun die Seele ſo leicht bey den Empfindungen in die heftigſten Be- wegungen geſetzt wird, wie iſt es moͤglich, daß der Verſtand Raum behaͤlt, die Dinge, ſo er durch die Sinne empfin- det, vernuͤnftig zu uͤberlegen, und von ih- rem Wehrte richtig zu urtheilen? Ehe der Verſtand die Beſchaffenheit der Dinge, ſo unſere Sinne ruͤhren, unter- ſucht, ſo ſind die ſinnlichen Begierden ſchon in voller Bewegung und hemmen den Gebrauch der Vernunft, ohne wel- che der Wille doch nichts wehlen ſolte. Wer da weiß, wie ſehr die heftigen Lei- denſchaften den Verſtand in ſeinen Wuͤrckungen hindern, der wird aus dem, was geſagt worden, begreiffen, warum derſelbe beſonders in geiſtlichen
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[351[347]/0383]
Anblick einer Sache kan in ihnen eine
ſolche Begierde erwecken, daß ſie wei-
nen, ja eine nicht geringe Raſerey ſehen
laſſen, wenn ihnen nicht ſo gleich gege-
ben wird, was ſie verlangen. Niemand
unter den Sterblichen kan ſich ruͤhmen,
daß er die Geneigtheit zu den geſchwin-
den und heftigen Aufwallungen des Ge-
muͤths gaͤntzlich weggeſchaft. Wenige
koͤnnen nur ſagen, daß ſie dieſes Feuer
der wilden Begierden dergeſtalt gemaͤßi-
get, daß es nicht bey einer jeden Gele-
genheit in die groͤſten Flammen aus-
bricht. Da nun die Seele ſo leicht bey
den Empfindungen in die heftigſten Be-
wegungen geſetzt wird, wie iſt es moͤglich,
daß der Verſtand Raum behaͤlt, die
Dinge, ſo er durch die Sinne empfin-
det, vernuͤnftig zu uͤberlegen, und von ih-
rem Wehrte richtig zu urtheilen? Ehe
der Verſtand die Beſchaffenheit der
Dinge, ſo unſere Sinne ruͤhren, unter-
ſucht, ſo ſind die ſinnlichen Begierden
ſchon in voller Bewegung und hemmen
den Gebrauch der Vernunft, ohne wel-
che der Wille doch nichts wehlen ſolte.
Wer da weiß, wie ſehr die heftigen Lei-
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Jacobi, Johann Friedrich: Betrachtungen über die Weisen Absichten Gottes, bey denen Dingen, die wir in der menschlichen Gesellschaft und der Offenbahrung antreffen. Bd. 1. Göttingen, 1741, S. 351[347]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jacobi_betrachtungen01_1741/383>, abgerufen am 22.11.2024.
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