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Jahn, Friedrich Ludwig: Deutsches Volksthum. Lübeck, 1810.

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Nur Eine Mutter hat jeder Mensch, Eine
Muttersprache ist für ihn genug. Wehe dem
Säugling, der einer Amme bedarf, wehe dem
Kinde und jedem Unsprachfertigen, die zur Mut¬
tersprache noch gleich eine Ammensprache mit¬
lernen müssen. Die Mutterliebe ist der beste
Dollmetscher der Sprechensanfänge, Lallen und
Stammeln bildet sie helfend zur Sprache. So
wird mit dem Lebensmorgen die Muttersprache
das offene Thor zu Herz, Gedächtniß und Ver¬
stand; fremde frühzeitige Plapperei öffnet eine
Afterpforte mit Diebsschlüssel. Zwei Mütter
gebären nicht Einen Leib, zwei oder noch meh¬
rere Sprachen zugleich entfalten kein Sprach¬
vermögen. Vorder- und Hinterthür zugleich im
Hause aufgethan giebt Zugluft; Pferde zugleich
vorwärts und rückwärts vor und hinter den Wa¬
gen gespannt, werden ihn nicht weit aus der
Stelle bringen. Sollen in früher Jugend zwei
oder mehrere Sprachen zugleich ihre Würksam¬
keit äußern, so müssen sie sich mit den Vorstel¬
lungen kreuzen, den Gedankenzusammenhang
stören, den ganzen Menschen verwirren. Wie
im hohen Alter, in der zweiten Kindheit es

Nur Eine Mutter hat jeder Menſch, Eine
Mutterſprache iſt für ihn genug. Wehe dem
Säugling, der einer Amme bedarf, wehe dem
Kinde und jedem Unſprachfertigen, die zur Mut¬
terſprache noch gleich eine Ammenſprache mit¬
lernen müſſen. Die Mutterliebe iſt der beſte
Dollmetſcher der Sprechensanfänge, Lallen und
Stammeln bildet ſie helfend zur Sprache. So
wird mit dem Lebensmorgen die Mutterſprache
das offene Thor zu Herz, Gedächtniß und Ver¬
ſtand; fremde frühzeitige Plapperei öffnet eine
Afterpforte mit Diebsſchlüſſel. Zwei Mütter
gebären nicht Einen Leib, zwei oder noch meh¬
rere Sprachen zugleich entfalten kein Sprach¬
vermögen. Vorder- und Hinterthür zugleich im
Hauſe aufgethan giebt Zugluft; Pferde zugleich
vorwärts und rückwärts vor und hinter den Wa¬
gen geſpannt, werden ihn nicht weit aus der
Stelle bringen. Sollen in früher Jugend zwei
oder mehrere Sprachen zugleich ihre Würkſam¬
keit äußern, ſo müſſen ſie ſich mit den Vorſtel¬
lungen kreuzen, den Gedankenzuſammenhang
ſtören, den ganzen Menſchen verwirren. Wie
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[185/0215] 185 Nur Eine Mutter hat jeder Menſch, Eine Mutterſprache iſt für ihn genug. Wehe dem Säugling, der einer Amme bedarf, wehe dem Kinde und jedem Unſprachfertigen, die zur Mut¬ terſprache noch gleich eine Ammenſprache mit¬ lernen müſſen. Die Mutterliebe iſt der beſte Dollmetſcher der Sprechensanfänge, Lallen und Stammeln bildet ſie helfend zur Sprache. So wird mit dem Lebensmorgen die Mutterſprache das offene Thor zu Herz, Gedächtniß und Ver¬ ſtand; fremde frühzeitige Plapperei öffnet eine Afterpforte mit Diebsſchlüſſel. Zwei Mütter gebären nicht Einen Leib, zwei oder noch meh¬ rere Sprachen zugleich entfalten kein Sprach¬ vermögen. Vorder- und Hinterthür zugleich im Hauſe aufgethan giebt Zugluft; Pferde zugleich vorwärts und rückwärts vor und hinter den Wa¬ gen geſpannt, werden ihn nicht weit aus der Stelle bringen. Sollen in früher Jugend zwei oder mehrere Sprachen zugleich ihre Würkſam¬ keit äußern, ſo müſſen ſie ſich mit den Vorſtel¬ lungen kreuzen, den Gedankenzuſammenhang ſtören, den ganzen Menſchen verwirren. Wie im hohen Alter, in der zweiten Kindheit es

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Zitationshilfe: Jahn, Friedrich Ludwig: Deutsches Volksthum. Lübeck, 1810, S. 185. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jahn_volksthum_1810/215>, abgerufen am 23.11.2024.