Völker; die vergleichende Völkergeschichte kam auf leibliche, geistige, sittliche, ins ganze Völker¬ leben verwebte Besonderheiten. Solche geschicht¬ liche Wahrzeichen, zu völkerweltlichen Merkma¬ len geordnet, würden eine eigene Wissenschaft ausmachen, eine Erfahrungsseelenlehre der Völ¬ ker. Schon kannte man Eine Wahrheit mehr, nur gab es langehin für sie noch keine Benen¬ nung.
Wenn aber Wissenschaften lange fortgebaut werden, so häuft sich am Ende ein Wissensstoff, unter dem schon das bloße Lesen erliegt, die Ge¬ lehrsamkeit nutzlos umherwühlt -- zur Anwen¬ dung in der Würklichkeit kann es dann gar nicht kommen! Wer den Versuch wagt, aus vielen zugerichteten Einzelnheiten, ein verbunde¬ nes Ganze aufzustellen, wird ein Wohlthäter. Nur Ordnung und Übersicht kann Menschen zum Bewußt bringen, von dem was sie wissen; und zur Brauchkunst leiten, von dem, was sie haben. Wo aber zahllose Wege neben und durch einander streifen, muß sich ein Ordner der Mühe unterziehn, vorläufig eine Bahn zu zeich¬ nen, wäre sie auch noch nicht die geradeste. Zu¬
Völker; die vergleichende Völkergeſchichte kam auf leibliche, geiſtige, ſittliche, ins ganze Völker¬ leben verwebte Beſonderheiten. Solche geſchicht¬ liche Wahrzeichen, zu völkerweltlichen Merkma¬ len geordnet, würden eine eigene Wiſſenſchaft ausmachen, eine Erfahrungsſeelenlehre der Völ¬ ker. Schon kannte man Eine Wahrheit mehr, nur gab es langehin für ſie noch keine Benen¬ nung.
Wenn aber Wiſſenſchaften lange fortgebaut werden, ſo häuft ſich am Ende ein Wiſſensſtoff, unter dem ſchon das bloße Leſen erliegt, die Ge¬ lehrſamkeit nutzlos umherwühlt — zur Anwen¬ dung in der Würklichkeit kann es dann gar nicht kommen! Wer den Verſuch wagt, aus vielen zugerichteten Einzelnheiten, ein verbunde¬ nes Ganze aufzuſtellen, wird ein Wohlthäter. Nur Ordnung und Überſicht kann Menſchen zum Bewußt bringen, von dem was ſie wiſſen; und zur Brauchkunſt leiten, von dem, was ſie haben. Wo aber zahlloſe Wege neben und durch einander ſtreifen, muß ſich ein Ordner der Mühe unterziehn, vorläufig eine Bahn zu zeich¬ nen, wäre ſie auch noch nicht die geradeſte. Zu¬
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Völker; die vergleichende Völkergeſchichte kam
auf leibliche, geiſtige, ſittliche, ins ganze Völker¬
leben verwebte Beſonderheiten. Solche geſchicht¬
liche Wahrzeichen, zu völkerweltlichen Merkma¬
len geordnet, würden eine eigene Wiſſenſchaft
ausmachen, eine Erfahrungsſeelenlehre der Völ¬
ker. Schon kannte man Eine Wahrheit mehr,
nur gab es langehin für ſie noch keine Benen¬
nung.
Wenn aber Wiſſenſchaften lange fortgebaut
werden, ſo häuft ſich am Ende ein Wiſſensſtoff,
unter dem ſchon das bloße Leſen erliegt, die Ge¬
lehrſamkeit nutzlos umherwühlt — zur Anwen¬
dung in der Würklichkeit kann es dann gar
nicht kommen! Wer den Verſuch wagt, aus
vielen zugerichteten Einzelnheiten, ein verbunde¬
nes Ganze aufzuſtellen, wird ein Wohlthäter.
Nur Ordnung und Überſicht kann Menſchen
zum Bewußt bringen, von dem was ſie wiſſen;
und zur Brauchkunſt leiten, von dem, was ſie
haben. Wo aber zahlloſe Wege neben und
durch einander ſtreifen, muß ſich ein Ordner der
Mühe unterziehn, vorläufig eine Bahn zu zeich¬
nen, wäre ſie auch noch nicht die geradeſte. Zu¬
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Jahn, Friedrich Ludwig: Deutsches Volksthum. Lübeck, 1810, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jahn_volksthum_1810/36>, abgerufen am 21.11.2024.
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