Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jahn, Friedrich Ludwig: Deutsches Volksthum. Lübeck, 1810.

Bild:
<< vorherige Seite

Völker; die vergleichende Völkergeschichte kam
auf leibliche, geistige, sittliche, ins ganze Völker¬
leben verwebte Besonderheiten. Solche geschicht¬
liche Wahrzeichen, zu völkerweltlichen Merkma¬
len geordnet, würden eine eigene Wissenschaft
ausmachen, eine Erfahrungsseelenlehre der Völ¬
ker. Schon kannte man Eine Wahrheit mehr,
nur gab es langehin für sie noch keine Benen¬
nung.

Wenn aber Wissenschaften lange fortgebaut
werden, so häuft sich am Ende ein Wissensstoff,
unter dem schon das bloße Lesen erliegt, die Ge¬
lehrsamkeit nutzlos umherwühlt -- zur Anwen¬
dung in der Würklichkeit kann es dann gar
nicht kommen! Wer den Versuch wagt, aus
vielen zugerichteten Einzelnheiten, ein verbunde¬
nes Ganze aufzustellen, wird ein Wohlthäter.
Nur Ordnung und Übersicht kann Menschen
zum Bewußt bringen, von dem was sie wissen;
und zur Brauchkunst leiten, von dem, was sie
haben. Wo aber zahllose Wege neben und
durch einander streifen, muß sich ein Ordner der
Mühe unterziehn, vorläufig eine Bahn zu zeich¬
nen, wäre sie auch noch nicht die geradeste. Zu¬

Völker; die vergleichende Völkergeſchichte kam
auf leibliche, geiſtige, ſittliche, ins ganze Völker¬
leben verwebte Beſonderheiten. Solche geſchicht¬
liche Wahrzeichen, zu völkerweltlichen Merkma¬
len geordnet, würden eine eigene Wiſſenſchaft
ausmachen, eine Erfahrungsſeelenlehre der Völ¬
ker. Schon kannte man Eine Wahrheit mehr,
nur gab es langehin für ſie noch keine Benen¬
nung.

Wenn aber Wiſſenſchaften lange fortgebaut
werden, ſo häuft ſich am Ende ein Wiſſensſtoff,
unter dem ſchon das bloße Leſen erliegt, die Ge¬
lehrſamkeit nutzlos umherwühlt — zur Anwen¬
dung in der Würklichkeit kann es dann gar
nicht kommen! Wer den Verſuch wagt, aus
vielen zugerichteten Einzelnheiten, ein verbunde¬
nes Ganze aufzuſtellen, wird ein Wohlthäter.
Nur Ordnung und Überſicht kann Menſchen
zum Bewußt bringen, von dem was ſie wiſſen;
und zur Brauchkunſt leiten, von dem, was ſie
haben. Wo aber zahlloſe Wege neben und
durch einander ſtreifen, muß ſich ein Ordner der
Mühe unterziehn, vorläufig eine Bahn zu zeich¬
nen, wäre ſie auch noch nicht die geradeſte. Zu¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0036" n="6"/><fw type="pageNum" place="top">6<lb/></fw>Völker; die vergleichende Völkerge&#x017F;chichte kam<lb/>
auf leibliche, gei&#x017F;tige, &#x017F;ittliche, ins ganze Völker¬<lb/>
leben verwebte Be&#x017F;onderheiten. Solche ge&#x017F;chicht¬<lb/>
liche Wahrzeichen, zu völkerweltlichen Merkma¬<lb/>
len geordnet, würden eine eigene Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft<lb/>
ausmachen, eine Erfahrungs&#x017F;eelenlehre der Völ¬<lb/>
ker. Schon kannte man Eine Wahrheit mehr,<lb/>
nur gab es langehin für &#x017F;ie noch keine Benen¬<lb/>
nung.</p><lb/>
        <p>Wenn aber Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften lange fortgebaut<lb/>
werden, &#x017F;o häuft &#x017F;ich am Ende ein Wi&#x017F;&#x017F;ens&#x017F;toff,<lb/>
unter dem &#x017F;chon das bloße Le&#x017F;en erliegt, die Ge¬<lb/>
lehr&#x017F;amkeit nutzlos umherwühlt &#x2014; zur Anwen¬<lb/>
dung in der Würklichkeit kann es dann gar<lb/>
nicht kommen! Wer den Ver&#x017F;uch wagt, aus<lb/>
vielen zugerichteten Einzelnheiten, ein verbunde¬<lb/>
nes Ganze aufzu&#x017F;tellen, wird ein Wohlthäter.<lb/>
Nur Ordnung und Über&#x017F;icht kann Men&#x017F;chen<lb/>
zum Bewußt bringen, von dem was &#x017F;ie wi&#x017F;&#x017F;en;<lb/>
und zur Brauchkun&#x017F;t leiten, von dem, was &#x017F;ie<lb/>
haben. Wo aber zahllo&#x017F;e Wege neben und<lb/>
durch einander &#x017F;treifen, muß &#x017F;ich ein Ordner der<lb/>
Mühe unterziehn, vorläufig eine Bahn zu zeich¬<lb/>
nen, wäre &#x017F;ie auch noch nicht die gerade&#x017F;te. Zu¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[6/0036] 6 Völker; die vergleichende Völkergeſchichte kam auf leibliche, geiſtige, ſittliche, ins ganze Völker¬ leben verwebte Beſonderheiten. Solche geſchicht¬ liche Wahrzeichen, zu völkerweltlichen Merkma¬ len geordnet, würden eine eigene Wiſſenſchaft ausmachen, eine Erfahrungsſeelenlehre der Völ¬ ker. Schon kannte man Eine Wahrheit mehr, nur gab es langehin für ſie noch keine Benen¬ nung. Wenn aber Wiſſenſchaften lange fortgebaut werden, ſo häuft ſich am Ende ein Wiſſensſtoff, unter dem ſchon das bloße Leſen erliegt, die Ge¬ lehrſamkeit nutzlos umherwühlt — zur Anwen¬ dung in der Würklichkeit kann es dann gar nicht kommen! Wer den Verſuch wagt, aus vielen zugerichteten Einzelnheiten, ein verbunde¬ nes Ganze aufzuſtellen, wird ein Wohlthäter. Nur Ordnung und Überſicht kann Menſchen zum Bewußt bringen, von dem was ſie wiſſen; und zur Brauchkunſt leiten, von dem, was ſie haben. Wo aber zahlloſe Wege neben und durch einander ſtreifen, muß ſich ein Ordner der Mühe unterziehn, vorläufig eine Bahn zu zeich¬ nen, wäre ſie auch noch nicht die geradeſte. Zu¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jahn_volksthum_1810
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jahn_volksthum_1810/36
Zitationshilfe: Jahn, Friedrich Ludwig: Deutsches Volksthum. Lübeck, 1810, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jahn_volksthum_1810/36>, abgerufen am 21.11.2024.