Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 2. Berlin, 1958.um das Ganze zu versorgen. Es ist unsinnig, zu denken, daß die grossen [45]-- Ich bitte nicht um Nachsicht für diesen Irsteig: in einem Briefe Was mir in Ihrem Tagebuch ausser dem philosophierenden Geiste10 In Ihrem schönen Briefe veranlasset mich eine einzige Anmerkung Der ganze Streit entspint sich aus dem grossen Räthsel, von dem35 um das Ganze zu verſorgen. Es iſt unſinnig, zu denken, daß die groſſen [45]— Ich bitte nicht um Nachſicht für dieſen Irſteig: in einem Briefe Was mir in Ihrem Tagebuch auſſer dem philoſophierenden Geiſte10 In Ihrem ſchönen Briefe veranlaſſet mich eine einzige Anmerkung Der ganze Streit entſpint ſich aus dem groſſen Räthſel, von dem35 <TEI> <text> <body> <div type="letter" n="1"> <p><pb facs="#f0061" n="52"/> um das Ganze zu verſorgen. Es iſt unſinnig, zu denken, daß die groſſen<lb/> Räder im Univerſum gehen werden, wenn der Schöpfer nur die Räder,<lb/> und nicht auch die kleinſten Zähne daran machte. Wenn er nicht<lb/> Kleinigkeiten beſorgt: ſo beſorgt er gar nichts; weil die Gröſſe nichts<lb/> iſt als eine <hi rendition="#g">gröſſere</hi> Anzahl Kleinigkeiten ...<lb n="5"/> </p> <p><note place="left"><ref target="1922_Bd2_45">[45]</ref></note>— Ich bitte nicht um Nachſicht für dieſen Irſteig: in einem Briefe<lb/> und in einer Viſitte iſt man an keine Paragraphenkette gebunden. Al-<lb/> gemeine Wahrheiten müſſen bei uns beiden die Stadtneuigkeiten ſein;<lb/> und wenn man dieſe ohne Ordnung ſagen darf, warum nicht jene?</p><lb/> <p>Was mir in Ihrem Tagebuch auſſer dem philoſophierenden Geiſte<lb n="10"/> darin ſo wol that, iſt Ihre Toleranz mit allen Menſchen, mit ihren<lb/> Schwächen, mit fremden Schlägen, mit eignen Schmerzen.</p><lb/> <p>In Ihrem ſchönen Briefe veranlaſſet mich eine einzige Anmerkung<lb/> zu einer entgegengeſezten — dieſe, daß volkommen <hi rendition="#g">geborne</hi> Weſen<lb/> ſchlechter ſind als volkommen <hi rendition="#g">werdende</hi> d. h. ſich beſſernde. Ich<lb n="15"/> glaube das Gegentheil. Gott ſelber iſt, aber <hi rendition="#g">wird</hi> nicht heilig oder<lb/> volkommen. Zweitens beſteht die moraliſche Kraft ſo wenig in <hi rendition="#g">Be-<lb/> ſiegung</hi> der unmoraliſchen, als die Geſundheit in der Bekämpfung<lb/> der Krankheitsmaterie: ſondern wie die Geſundheit am gröſten iſt ohne<lb/><hi rendition="#g">Anlas</hi> zum Bekämpfen, ſo iſt Tugend ohne Anlas zu Siegen — d. h.<lb n="20"/> ohne Angriffe des Laſters, d. h. ohne anfallende kleine Laſter — am<lb/> gröſten. Je beſſer der Menſch wird, deſto weniger hat er in ſich zu<lb/> bekämpfen, und der Neubekehrte hat gerade gröſſere Kriege, aber<lb/> doch ſicher nicht gröſſere Verdienſte als der Tugend-Greis. Noch<lb/> mehr: wenn <hi rendition="#g">angeborne</hi> moraliſche Kraft weniger Werth haben ſol:<lb n="25"/> ſo frag’ ich, mit welcher andern als einer <hi rendition="#g">angebornen</hi> wird denn der<lb/> Schwache über ſeine Verſuchungen Herr? — Das Verdienſt, ſich<lb/> ſelber gar <hi rendition="#g">auszuſchaffen,</hi> hat zwar der Schwache, aber der Engel<lb/> hat es noch mehr: nur fängt dieſer ſein freiwilliges Steigen auf einer<lb/><hi rendition="#g">höhern</hi> Stufe, aber auch mit gröſſern Flügeln, an. Endlich wenn<lb n="30"/> angeborne Tugendtriebe kein Lob verdienen: ſo verdienen auch an-<lb/> geborne Laſtertriebe keinen Tadel; und folglich wäre des Engels<lb/> Gehorſam gegen <hi rendition="#g">jene</hi> und des Menſchen Sieg über <hi rendition="#g">dieſe gleich</hi><lb/> unverdienſtlich.</p><lb/> <p>Der ganze Streit entſpint ſich aus dem groſſen Räthſel, von dem<lb n="35"/> ſelber Kant die Schreibfinger abzieht: „was <hi rendition="#g">macht,</hi> daß der Menſch<lb/> gut wird, da man, um ſein <hi rendition="#g">Wollen</hi> beſſern zu <hi rendition="#g">wollen,</hi> ja ſchon eben<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [52/0061]
um das Ganze zu verſorgen. Es iſt unſinnig, zu denken, daß die groſſen
Räder im Univerſum gehen werden, wenn der Schöpfer nur die Räder,
und nicht auch die kleinſten Zähne daran machte. Wenn er nicht
Kleinigkeiten beſorgt: ſo beſorgt er gar nichts; weil die Gröſſe nichts
iſt als eine gröſſere Anzahl Kleinigkeiten ... 5
— Ich bitte nicht um Nachſicht für dieſen Irſteig: in einem Briefe
und in einer Viſitte iſt man an keine Paragraphenkette gebunden. Al-
gemeine Wahrheiten müſſen bei uns beiden die Stadtneuigkeiten ſein;
und wenn man dieſe ohne Ordnung ſagen darf, warum nicht jene?
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Was mir in Ihrem Tagebuch auſſer dem philoſophierenden Geiſte 10
darin ſo wol that, iſt Ihre Toleranz mit allen Menſchen, mit ihren
Schwächen, mit fremden Schlägen, mit eignen Schmerzen.
In Ihrem ſchönen Briefe veranlaſſet mich eine einzige Anmerkung
zu einer entgegengeſezten — dieſe, daß volkommen geborne Weſen
ſchlechter ſind als volkommen werdende d. h. ſich beſſernde. Ich 15
glaube das Gegentheil. Gott ſelber iſt, aber wird nicht heilig oder
volkommen. Zweitens beſteht die moraliſche Kraft ſo wenig in Be-
ſiegung der unmoraliſchen, als die Geſundheit in der Bekämpfung
der Krankheitsmaterie: ſondern wie die Geſundheit am gröſten iſt ohne
Anlas zum Bekämpfen, ſo iſt Tugend ohne Anlas zu Siegen — d. h. 20
ohne Angriffe des Laſters, d. h. ohne anfallende kleine Laſter — am
gröſten. Je beſſer der Menſch wird, deſto weniger hat er in ſich zu
bekämpfen, und der Neubekehrte hat gerade gröſſere Kriege, aber
doch ſicher nicht gröſſere Verdienſte als der Tugend-Greis. Noch
mehr: wenn angeborne moraliſche Kraft weniger Werth haben ſol: 25
ſo frag’ ich, mit welcher andern als einer angebornen wird denn der
Schwache über ſeine Verſuchungen Herr? — Das Verdienſt, ſich
ſelber gar auszuſchaffen, hat zwar der Schwache, aber der Engel
hat es noch mehr: nur fängt dieſer ſein freiwilliges Steigen auf einer
höhern Stufe, aber auch mit gröſſern Flügeln, an. Endlich wenn 30
angeborne Tugendtriebe kein Lob verdienen: ſo verdienen auch an-
geborne Laſtertriebe keinen Tadel; und folglich wäre des Engels
Gehorſam gegen jene und des Menſchen Sieg über dieſe gleich
unverdienſtlich.
Der ganze Streit entſpint ſich aus dem groſſen Räthſel, von dem 35
ſelber Kant die Schreibfinger abzieht: „was macht, daß der Menſch
gut wird, da man, um ſein Wollen beſſern zu wollen, ja ſchon eben
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(2016-11-22T15:02:06Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Weitere Informationen:Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen). Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
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