Mein alter und verjüngter Heinrich! Wie viel Freude und Hoffnung hat mir dein letzter Brief gebracht! -- Freilich deine per- sönliche Erscheinung wäre mehr -- aber zu viel gewesen; und aller5 dein Verstand hätte da nicht vermocht, den meinigen aus der Freude wieder zurechtzurücken auf der Stelle. Ich halte auch den ganzen Vorsatz für einen flüchtigen sechsfach geflügelten Einfall. -- Ach gieb uns doch deine Gedanken so wie sie funken- oder sternen-weise aus dir springen; was soll eine besondere steife Soldaten-Reihung10 im Firmament? Ich habe bei dir noch keine Wiederholungen ge- funden, und zwar darum keine, weil du organisch, nicht baukünstelnd (syllogistisch) erschaffst. Kann ein Vater denselben Sohn wieder erzeugen? -- Familienähnliche Brüder höchstens. Mir thun jetzt deine Schriften noth (nöthig); und Leibnitz, den ich eben wieder15 lese und bewundere, erinnert mich zu oft an dich. Ein solcher Doppel- Riese (von Philosophie und Mathematik) ist doch nie erschienen wie er gewesen. Über seine 5 Briefe an Clarke und dessen 5 Ant- worten sollte man Vorlesungen*) zur Gymnastik halten, um zu be-35 weisen -- was du einmal gesagt -- daß auch in Wissenschaften20 Streiten nicht viel erobere --, ausgenommen, setz' ich dazu, Fechter- arme und Fechteraugen.
Auf deine "Seelenwanderung" nicht durch Leiber sondern durch Seelen oder Systeme freu' ich mich innigst; zumal in der jetzigen Zeit, wo der meiste repos im Bücher-Repositorium ist. Indeß25 verzagt niemand weniger an der Zeit oder Nazion als ich; oder gar an der Vorsehung. Wer überhaupt in einer Theodizee irgend ein kleines Übel mit der Gottheit zu reimen weiß, muß es auch mit jedem größeren können, da der Einwand bei Größe und bei Kleinheit derselbe bleibt, Sonnenfinsternisse und längste Nächte be-30 decken gleich sehr die Ur-Sonne.
*) Beinahe komisch weiset jeder auf seine vorige Widerlegung zurück, indeß der andere unwiderlegt immer dasselbe reproduziert. So liefen beide Parallel- linien ohne Berührung neben einander fort; aber oben in der Unendlichkeit werden sie sich schon wie andre Parallellinien abc) berührt haben.
abc) nach der Analysis.
11 Jean Paul Briefe. VI.
409. An Friedrich Heinrich Jacobi in München.
Bayreuth Dec. 18. 1810
Mein alter und verjüngter Heinrich! Wie viel Freude und Hoffnung hat mir dein letzter Brief gebracht! — Freilich deine per- ſönliche Erſcheinung wäre mehr — aber zu viel geweſen; und aller5 dein Verſtand hätte da nicht vermocht, den meinigen aus der Freude wieder zurechtzurücken auf der Stelle. Ich halte auch den ganzen Vorſatz für einen flüchtigen ſechsfach geflügelten Einfall. — Ach gieb uns doch deine Gedanken ſo wie ſie funken- oder ſternen-weiſe aus dir ſpringen; was ſoll eine beſondere ſteife Soldaten-Reihung10 im Firmament? Ich habe bei dir noch keine Wiederholungen ge- funden, und zwar darum keine, weil du organiſch, nicht baukünſtelnd (ſyllogiſtiſch) erſchaffſt. Kann ein Vater denſelben Sohn wieder erzeugen? — Familienähnliche Brüder höchſtens. Mir thun jetzt deine Schriften noth (nöthig); und Leibnitz, den ich eben wieder15 leſe und bewundere, erinnert mich zu oft an dich. Ein ſolcher Doppel- Rieſe (von Philoſophie und Mathematik) iſt doch nie erſchienen wie er geweſen. Über ſeine 5 Briefe an Clarke und deſſen 5 Ant- worten ſollte man Vorleſungen*) zur Gymnaſtik halten, um zu be-35 weiſen — was du einmal geſagt — daß auch in Wiſſenſchaften20 Streiten nicht viel erobere —, ausgenommen, ſetz’ ich dazu, Fechter- arme und Fechteraugen.
Auf deine „Seelenwanderung“ nicht durch Leiber ſondern durch Seelen oder Syſteme freu’ ich mich innigſt; zumal in der jetzigen Zeit, wo der meiſte répos im Bücher-Repoſitorium iſt. Indeß25 verzagt niemand weniger an der Zeit oder Nazion als ich; oder gar an der Vorſehung. Wer überhaupt in einer Theodizée irgend ein kleines Übel mit der Gottheit zu reimen weiß, muß es auch mit jedem größeren können, da der Einwand bei Größe und bei Kleinheit derſelbe bleibt, Sonnenfinſterniſſe und längſte Nächte be-30 decken gleich ſehr die Ur-Sonne.
*) Beinahe komiſch weiſet jeder auf ſeine vorige Widerlegung zurück, indeß der andere unwiderlegt immer daſſelbe reproduziert. So liefen beide Parallel- linien ohne Berührung neben einander fort; aber oben in der Unendlichkeit werden ſie ſich ſchon wie andre Parallellinien abc) berührt haben.
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409. An Friedrich Heinrich Jacobi in München.
Bayreuth Dec. 18. 1810
Mein alter und verjüngter Heinrich! Wie viel Freude und
Hoffnung hat mir dein letzter Brief gebracht! — Freilich deine per-
ſönliche Erſcheinung wäre mehr — aber zu viel geweſen; und aller 5
dein Verſtand hätte da nicht vermocht, den meinigen aus der Freude
wieder zurechtzurücken auf der Stelle. Ich halte auch den ganzen
Vorſatz für einen flüchtigen ſechsfach geflügelten Einfall. — Ach
gieb uns doch deine Gedanken ſo wie ſie funken- oder ſternen-weiſe
aus dir ſpringen; was ſoll eine beſondere ſteife Soldaten-Reihung 10
im Firmament? Ich habe bei dir noch keine Wiederholungen ge-
funden, und zwar darum keine, weil du organiſch, nicht baukünſtelnd
(ſyllogiſtiſch) erſchaffſt. Kann ein Vater denſelben Sohn wieder
erzeugen? — Familienähnliche Brüder höchſtens. Mir thun jetzt
deine Schriften noth (nöthig); und Leibnitz, den ich eben wieder 15
leſe und bewundere, erinnert mich zu oft an dich. Ein ſolcher Doppel-
Rieſe (von Philoſophie und Mathematik) iſt doch nie erſchienen
wie er geweſen. Über ſeine 5 Briefe an Clarke und deſſen 5 Ant-
worten ſollte man Vorleſungen *) zur Gymnaſtik halten, um zu be- 35
weiſen — was du einmal geſagt — daß auch in Wiſſenſchaften 20
Streiten nicht viel erobere —, ausgenommen, ſetz’ ich dazu, Fechter-
arme und Fechteraugen.
Auf deine „Seelenwanderung“ nicht durch Leiber ſondern durch
Seelen oder Syſteme freu’ ich mich innigſt; zumal in der jetzigen
Zeit, wo der meiſte répos im Bücher-Repoſitorium iſt. Indeß 25
verzagt niemand weniger an der Zeit oder Nazion als ich; oder
gar an der Vorſehung. Wer überhaupt in einer Theodizée irgend
ein kleines Übel mit der Gottheit zu reimen weiß, muß es auch
mit jedem größeren können, da der Einwand bei Größe und bei
Kleinheit derſelbe bleibt, Sonnenfinſterniſſe und längſte Nächte be- 30
decken gleich ſehr die Ur-Sonne.
*) Beinahe komiſch weiſet jeder auf ſeine vorige Widerlegung zurück, indeß
der andere unwiderlegt immer daſſelbe reproduziert. So liefen beide Parallel-
linien ohne Berührung neben einander fort; aber oben in der Unendlichkeit
werden ſie ſich ſchon wie andre Parallellinien abc) berührt haben.
abc) nach der Analyſis.
11 Jean Paul Briefe. VI.
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
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Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T15:17:09Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T15:17:09Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 6. Berlin, 1952, S. 161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe06_1962/174>, abgerufen am 16.07.2024.
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