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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

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Erstes Buch -- Ausgangspunkte des römischen Rechts.
Wie bei den Individuen so ist auch bei den Völkern das Erin-
nerungsvermögen, namentlich soweit es die Kindheitszeit zum
Gegenstande hat, ein sehr verschiedenes. In manchen Völkern
lebt treu und unverfälscht das Bild der vergangenen Tage fort;
bei manchen andern hingegen stattet eine rastlos thätige Phan-
tasie die Vergangenheit sofort mit poetischen Farben aus und ver-
wandelt Geschichte in Dichtung; bei einem andern Volke end-
lich ist der Sinn so vorwiegend auf die praktischen Zwecke der
Gegenwart gerichtet, daß sich bei dem Drange des thätigen
Lebens die Kunde abgestorbner Zustände rasch verflüchtigt.

Von welcher Art war das nationale Erinnerungsvermögen
des römischen Volks? Die Römer hielten freilich am Alten fest,
und das Gedächtniß großer Thaten ging bei ihnen nie unter,
aber zwei Umstände bewirkten dennoch, daß die Zustände ihrer
Kindheit nur schwach in ihrem Gedächtniß fortlebten. 1) Ein-
mal nämlich ging ihre ganze Thätigkeit Jahrhunderte lang in
den praktischen Zwecken der Gegenwart auf. Nun vertrug sich
damit allerdings ihre hohe Achtung vor dem Hergebrachten;
was lebte, genoß der kräftigsten Gesundheit bis ins höchste
Alter hinein, allein war es dem Leben einmal völlig abge-
storben, so ward es bald vergessen. Auch bei den noch geltenden
Institutionen pflegte man wenig nach deren historischer Ent-
stehung und Entwicklung zu forschen. Ein anderer Grund liegt
in dem Charakter der ältesten römischen Geschichte. Wenn die
Kindheitszeit eines Volkes in idyllischer Stille und Gleich-
mäßigkeit dahin fließt, dann mag die Erinnerung, wie im glei-

1) Huschke, in der Vorrede zu seiner Verfassung des Servius Tullius
S. VII u. fl. gelangte zu einem andern Resultat. In seinen Augen besaß
das römische Volk "eine zusammenfassende Gewalt und Macht des Volks-
geistes, welche auch die fernsten Zeiten seiner Kindheit stets in der Einheit
des gegenwärtigen Bewußtseins festhält, weßhalb er auch wegen seines Hän-
gens am Alten so sehr gepriesen oder getadelt wird." Ich bedauere auf die
gediegene Begründung Huschkes nicht näher eingehn zu können, die beiden
im Text hervorgehobenen Gründe werden aber durch dieselbe nicht getroffen.

Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
Wie bei den Individuen ſo iſt auch bei den Völkern das Erin-
nerungsvermögen, namentlich ſoweit es die Kindheitszeit zum
Gegenſtande hat, ein ſehr verſchiedenes. In manchen Völkern
lebt treu und unverfälſcht das Bild der vergangenen Tage fort;
bei manchen andern hingegen ſtattet eine raſtlos thätige Phan-
taſie die Vergangenheit ſofort mit poetiſchen Farben aus und ver-
wandelt Geſchichte in Dichtung; bei einem andern Volke end-
lich iſt der Sinn ſo vorwiegend auf die praktiſchen Zwecke der
Gegenwart gerichtet, daß ſich bei dem Drange des thätigen
Lebens die Kunde abgeſtorbner Zuſtände raſch verflüchtigt.

Von welcher Art war das nationale Erinnerungsvermögen
des römiſchen Volks? Die Römer hielten freilich am Alten feſt,
und das Gedächtniß großer Thaten ging bei ihnen nie unter,
aber zwei Umſtände bewirkten dennoch, daß die Zuſtände ihrer
Kindheit nur ſchwach in ihrem Gedächtniß fortlebten. 1) Ein-
mal nämlich ging ihre ganze Thätigkeit Jahrhunderte lang in
den praktiſchen Zwecken der Gegenwart auf. Nun vertrug ſich
damit allerdings ihre hohe Achtung vor dem Hergebrachten;
was lebte, genoß der kräftigſten Geſundheit bis ins höchſte
Alter hinein, allein war es dem Leben einmal völlig abge-
ſtorben, ſo ward es bald vergeſſen. Auch bei den noch geltenden
Inſtitutionen pflegte man wenig nach deren hiſtoriſcher Ent-
ſtehung und Entwicklung zu forſchen. Ein anderer Grund liegt
in dem Charakter der älteſten römiſchen Geſchichte. Wenn die
Kindheitszeit eines Volkes in idylliſcher Stille und Gleich-
mäßigkeit dahin fließt, dann mag die Erinnerung, wie im glei-

1) Huſchke, in der Vorrede zu ſeiner Verfaſſung des Servius Tullius
S. VII u. fl. gelangte zu einem andern Reſultat. In ſeinen Augen beſaß
das römiſche Volk „eine zuſammenfaſſende Gewalt und Macht des Volks-
geiſtes, welche auch die fernſten Zeiten ſeiner Kindheit ſtets in der Einheit
des gegenwärtigen Bewußtſeins feſthält, weßhalb er auch wegen ſeines Hän-
gens am Alten ſo ſehr geprieſen oder getadelt wird.“ Ich bedauere auf die
gediegene Begründung Huſchkes nicht näher eingehn zu können, die beiden
im Text hervorgehobenen Gründe werden aber durch dieſelbe nicht getroffen.
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[86/0104] Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts. Wie bei den Individuen ſo iſt auch bei den Völkern das Erin- nerungsvermögen, namentlich ſoweit es die Kindheitszeit zum Gegenſtande hat, ein ſehr verſchiedenes. In manchen Völkern lebt treu und unverfälſcht das Bild der vergangenen Tage fort; bei manchen andern hingegen ſtattet eine raſtlos thätige Phan- taſie die Vergangenheit ſofort mit poetiſchen Farben aus und ver- wandelt Geſchichte in Dichtung; bei einem andern Volke end- lich iſt der Sinn ſo vorwiegend auf die praktiſchen Zwecke der Gegenwart gerichtet, daß ſich bei dem Drange des thätigen Lebens die Kunde abgeſtorbner Zuſtände raſch verflüchtigt. Von welcher Art war das nationale Erinnerungsvermögen des römiſchen Volks? Die Römer hielten freilich am Alten feſt, und das Gedächtniß großer Thaten ging bei ihnen nie unter, aber zwei Umſtände bewirkten dennoch, daß die Zuſtände ihrer Kindheit nur ſchwach in ihrem Gedächtniß fortlebten. 1) Ein- mal nämlich ging ihre ganze Thätigkeit Jahrhunderte lang in den praktiſchen Zwecken der Gegenwart auf. Nun vertrug ſich damit allerdings ihre hohe Achtung vor dem Hergebrachten; was lebte, genoß der kräftigſten Geſundheit bis ins höchſte Alter hinein, allein war es dem Leben einmal völlig abge- ſtorben, ſo ward es bald vergeſſen. Auch bei den noch geltenden Inſtitutionen pflegte man wenig nach deren hiſtoriſcher Ent- ſtehung und Entwicklung zu forſchen. Ein anderer Grund liegt in dem Charakter der älteſten römiſchen Geſchichte. Wenn die Kindheitszeit eines Volkes in idylliſcher Stille und Gleich- mäßigkeit dahin fließt, dann mag die Erinnerung, wie im glei- 1) Huſchke, in der Vorrede zu ſeiner Verfaſſung des Servius Tullius S. VII u. fl. gelangte zu einem andern Reſultat. In ſeinen Augen beſaß das römiſche Volk „eine zuſammenfaſſende Gewalt und Macht des Volks- geiſtes, welche auch die fernſten Zeiten ſeiner Kindheit ſtets in der Einheit des gegenwärtigen Bewußtſeins feſthält, weßhalb er auch wegen ſeines Hän- gens am Alten ſo ſehr geprieſen oder getadelt wird.“ Ich bedauere auf die gediegene Begründung Huſchkes nicht näher eingehn zu können, die beiden im Text hervorgehobenen Gründe werden aber durch dieſelbe nicht getroffen.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/104>, abgerufen am 15.05.2024.