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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

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Erinnerungsvermögen des römischen Volks. §. 7.
chen Fall beim Individuum, noch lange ein getreues, wenn auch
etwas idealisirtes Bild derselben bewahren. Anders hingegen,
wenn jene Zeit in einem unstäten, wechselvollen Treiben, in
innern und auswärtigen Kämpfen verläuft, wenn ein Eindruck
den andern verdrängt, und vor allem wenn die Bevölkerung
selbst noch nicht zur compakten Festigkeit gediehen ist, sondern
durch beständig neue Zuflüsse von außen sowie durch das Fluc-
tuiren und Drängen ihrer verschiedenen Schichten lange im Fluß
erhalten wird. Das ist aber gerade in der ältesten Geschichte Roms
der Fall. Kämpfe im Innern und nach außen hin, Gegensätze
in Abstammung, Recht und Bestrebung bezeichnen bereits das
erste Blatt dieser Geschichte, und Jahrhunderte vergehen, bis
die Elemente des römischen Volks zur Einheit eines Subjekts
verschmolzen sind. Für dieses Subjekt ist jene Periode des
Bildungsprozesses gewissermaßen eine Vorzeit, die es selbst nicht
erlebt hat, und in der es sich fremd fühlt. Dem römischen Volke
der Republik erschien das ganze Königthum in einem entstellten
Lichte, und erst die Republik bezeichnete in seinen Augen den
Anfang einer neuen Aera, von der an es sich und seine Freiheit
datirte. Das Verhältniß der spätern Jahrhunderte zu der Königs-
zeit ließe sich etwa vergleichen mit dem des Protestantismus zu
seiner Vorzeit, dem mittelalterlichen Katholicismus. Der Masse
der Protestanten wird der mittelalterliche Katholicismus als et-
was fremdes erscheinen, das für sie keine Beziehungen hat; ihr
confessionelles Interesse und Gedächtniß beginnt erst mit der
Reformation.

Dürftig ist also die Kunde der spätern Zeit von den Urzu-
ständen Roms, und manche von ihren dürftigen Mittheilungen
tragen die offenbaren Spuren der Erfindung oder entstellender
Auffassung an sich. Die neuere historische Kritik hat dies aufs
schlagendste nachgewiesen und zugleich den Beweis geführt, daß
man zu haltbaren positiven Resultaten gelangen kann, die den
römischen Geschichtschreibern entgingen. Ist gleich das histo-
rische Material, das unserer heutigen Wissenschaft zu Gebote

Erinnerungsvermögen des römiſchen Volks. §. 7.
chen Fall beim Individuum, noch lange ein getreues, wenn auch
etwas idealiſirtes Bild derſelben bewahren. Anders hingegen,
wenn jene Zeit in einem unſtäten, wechſelvollen Treiben, in
innern und auswärtigen Kämpfen verläuft, wenn ein Eindruck
den andern verdrängt, und vor allem wenn die Bevölkerung
ſelbſt noch nicht zur compakten Feſtigkeit gediehen iſt, ſondern
durch beſtändig neue Zuflüſſe von außen ſowie durch das Fluc-
tuiren und Drängen ihrer verſchiedenen Schichten lange im Fluß
erhalten wird. Das iſt aber gerade in der älteſten Geſchichte Roms
der Fall. Kämpfe im Innern und nach außen hin, Gegenſätze
in Abſtammung, Recht und Beſtrebung bezeichnen bereits das
erſte Blatt dieſer Geſchichte, und Jahrhunderte vergehen, bis
die Elemente des römiſchen Volks zur Einheit eines Subjekts
verſchmolzen ſind. Für dieſes Subjekt iſt jene Periode des
Bildungsprozeſſes gewiſſermaßen eine Vorzeit, die es ſelbſt nicht
erlebt hat, und in der es ſich fremd fühlt. Dem römiſchen Volke
der Republik erſchien das ganze Königthum in einem entſtellten
Lichte, und erſt die Republik bezeichnete in ſeinen Augen den
Anfang einer neuen Aera, von der an es ſich und ſeine Freiheit
datirte. Das Verhältniß der ſpätern Jahrhunderte zu der Königs-
zeit ließe ſich etwa vergleichen mit dem des Proteſtantismus zu
ſeiner Vorzeit, dem mittelalterlichen Katholicismus. Der Maſſe
der Proteſtanten wird der mittelalterliche Katholicismus als et-
was fremdes erſcheinen, das für ſie keine Beziehungen hat; ihr
confeſſionelles Intereſſe und Gedächtniß beginnt erſt mit der
Reformation.

Dürftig iſt alſo die Kunde der ſpätern Zeit von den Urzu-
ſtänden Roms, und manche von ihren dürftigen Mittheilungen
tragen die offenbaren Spuren der Erfindung oder entſtellender
Auffaſſung an ſich. Die neuere hiſtoriſche Kritik hat dies aufs
ſchlagendſte nachgewieſen und zugleich den Beweis geführt, daß
man zu haltbaren poſitiven Reſultaten gelangen kann, die den
römiſchen Geſchichtſchreibern entgingen. Iſt gleich das hiſto-
riſche Material, das unſerer heutigen Wiſſenſchaft zu Gebote

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[87/0105] Erinnerungsvermögen des römiſchen Volks. §. 7. chen Fall beim Individuum, noch lange ein getreues, wenn auch etwas idealiſirtes Bild derſelben bewahren. Anders hingegen, wenn jene Zeit in einem unſtäten, wechſelvollen Treiben, in innern und auswärtigen Kämpfen verläuft, wenn ein Eindruck den andern verdrängt, und vor allem wenn die Bevölkerung ſelbſt noch nicht zur compakten Feſtigkeit gediehen iſt, ſondern durch beſtändig neue Zuflüſſe von außen ſowie durch das Fluc- tuiren und Drängen ihrer verſchiedenen Schichten lange im Fluß erhalten wird. Das iſt aber gerade in der älteſten Geſchichte Roms der Fall. Kämpfe im Innern und nach außen hin, Gegenſätze in Abſtammung, Recht und Beſtrebung bezeichnen bereits das erſte Blatt dieſer Geſchichte, und Jahrhunderte vergehen, bis die Elemente des römiſchen Volks zur Einheit eines Subjekts verſchmolzen ſind. Für dieſes Subjekt iſt jene Periode des Bildungsprozeſſes gewiſſermaßen eine Vorzeit, die es ſelbſt nicht erlebt hat, und in der es ſich fremd fühlt. Dem römiſchen Volke der Republik erſchien das ganze Königthum in einem entſtellten Lichte, und erſt die Republik bezeichnete in ſeinen Augen den Anfang einer neuen Aera, von der an es ſich und ſeine Freiheit datirte. Das Verhältniß der ſpätern Jahrhunderte zu der Königs- zeit ließe ſich etwa vergleichen mit dem des Proteſtantismus zu ſeiner Vorzeit, dem mittelalterlichen Katholicismus. Der Maſſe der Proteſtanten wird der mittelalterliche Katholicismus als et- was fremdes erſcheinen, das für ſie keine Beziehungen hat; ihr confeſſionelles Intereſſe und Gedächtniß beginnt erſt mit der Reformation. Dürftig iſt alſo die Kunde der ſpätern Zeit von den Urzu- ſtänden Roms, und manche von ihren dürftigen Mittheilungen tragen die offenbaren Spuren der Erfindung oder entſtellender Auffaſſung an ſich. Die neuere hiſtoriſche Kritik hat dies aufs ſchlagendſte nachgewieſen und zugleich den Beweis geführt, daß man zu haltbaren poſitiven Reſultaten gelangen kann, die den römiſchen Geſchichtſchreibern entgingen. Iſt gleich das hiſto- riſche Material, das unſerer heutigen Wiſſenſchaft zu Gebote

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/105>, abgerufen am 24.11.2024.