Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

Bild:
<< vorherige Seite

I. Prinzip des subjektiven Willens. §. 10.
die Weltgeschichte arbeitet. Wenn ein unterdrücktes Volk sich
seines Tyrannen entledigt, wenn eine Regierung das im Zu-
stande der höchsten Erschlaffung ihr von der Masse aufgelegte
Nessusgewand einer verderblichen Verfassung von sich wirft,
wenn das Schwert des Eroberers einen morschen Staat zer-
trümmert und dem besiegten Volke Gesetze auferlegt -- -- was
antwortet darauf unsere Theorie von Recht und Gewalt? Sie
erkennt die Aenderung als vollendete Thatsache, als rettende
That an d. h. sie kann dem Geständniß nicht ausweichen, daß
die Thatkraft als solche Recht tilgen und schaffen kann. Die
Geschichte mit ihren gigantischen, naturkraftartig wirkenden
Mächten läßt sich nicht durch unser theoretisches Spinnenge-
webe fesseln; wenn sie lebendig wird, zerreißt sie es mit einem
Schlage an allen Stellen und überläßt der Theorie die Mühe,
es in veränderter Gestalt wieder zusammen zu weben.

Nun, was soll es? Sehen wir noch heutzutage, daß die
Thatkraft das Recht gebiert, welche andere Mutter, als sie sollte
das Recht am Anfang der Geschichte gehabt haben? Nennen wir
aber darum beide nicht eins, sagen wir nicht, daß statt des
Rechts die Gewalt regiert habe. Auch das Recht war da, wenn
auch in ganz anderer Weise als heutzutage; nicht nämlich als
eine objektive Macht, die sich durch sich selbst verwirklicht, son-
dern als innerliche, als subjektives Rechtsgefühl. Was die
Thatkraft geschaffen, was sie erworben und erkämpft, dem drückte
das Rechtsgefühl seinen Stempel auf, machte es zu einem Theile
der Person selbst und verdoppelte damit die Kraft, mit der es
behauptet ward. Der erste Ansatz des Rechtsgefühls ist das Ge-
fühl der eignen Berechtigung, gestützt auf die Bewährung der
eignen Kraft und gerichtet auf die Resultate derselben. Dies
Gefühl involvirt begrifflich freilich auch die Anerkennung des
fremden Rechtsgefühls, aber praktisch entwickelt sich die Achtung
vor dem Rechte Anderer nur sehr mühsam und allmählig. Ur-
sprünglich ist sie auf den engen Kreis der Genossen beschränkt;
wer draußen steht, ist rechtlos, gegen ihn mag man der Gewalt

I. Prinzip des ſubjektiven Willens. §. 10.
die Weltgeſchichte arbeitet. Wenn ein unterdrücktes Volk ſich
ſeines Tyrannen entledigt, wenn eine Regierung das im Zu-
ſtande der höchſten Erſchlaffung ihr von der Maſſe aufgelegte
Neſſusgewand einer verderblichen Verfaſſung von ſich wirft,
wenn das Schwert des Eroberers einen morſchen Staat zer-
trümmert und dem beſiegten Volke Geſetze auferlegt — — was
antwortet darauf unſere Theorie von Recht und Gewalt? Sie
erkennt die Aenderung als vollendete Thatſache, als rettende
That an d. h. ſie kann dem Geſtändniß nicht ausweichen, daß
die Thatkraft als ſolche Recht tilgen und ſchaffen kann. Die
Geſchichte mit ihren gigantiſchen, naturkraftartig wirkenden
Mächten läßt ſich nicht durch unſer theoretiſches Spinnenge-
webe feſſeln; wenn ſie lebendig wird, zerreißt ſie es mit einem
Schlage an allen Stellen und überläßt der Theorie die Mühe,
es in veränderter Geſtalt wieder zuſammen zu weben.

Nun, was ſoll es? Sehen wir noch heutzutage, daß die
Thatkraft das Recht gebiert, welche andere Mutter, als ſie ſollte
das Recht am Anfang der Geſchichte gehabt haben? Nennen wir
aber darum beide nicht eins, ſagen wir nicht, daß ſtatt des
Rechts die Gewalt regiert habe. Auch das Recht war da, wenn
auch in ganz anderer Weiſe als heutzutage; nicht nämlich als
eine objektive Macht, die ſich durch ſich ſelbſt verwirklicht, ſon-
dern als innerliche, als ſubjektives Rechtsgefühl. Was die
Thatkraft geſchaffen, was ſie erworben und erkämpft, dem drückte
das Rechtsgefühl ſeinen Stempel auf, machte es zu einem Theile
der Perſon ſelbſt und verdoppelte damit die Kraft, mit der es
behauptet ward. Der erſte Anſatz des Rechtsgefühls iſt das Ge-
fühl der eignen Berechtigung, geſtützt auf die Bewährung der
eignen Kraft und gerichtet auf die Reſultate derſelben. Dies
Gefühl involvirt begrifflich freilich auch die Anerkennung des
fremden Rechtsgefühls, aber praktiſch entwickelt ſich die Achtung
vor dem Rechte Anderer nur ſehr mühſam und allmählig. Ur-
ſprünglich iſt ſie auf den engen Kreis der Genoſſen beſchränkt;
wer draußen ſteht, iſt rechtlos, gegen ihn mag man der Gewalt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0123" n="105"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">I.</hi> Prinzip des &#x017F;ubjektiven Willens. §. 10.</fw><lb/>
die Weltge&#x017F;chichte arbeitet. Wenn ein unterdrücktes Volk &#x017F;ich<lb/>
&#x017F;eines Tyrannen entledigt, wenn eine Regierung das im Zu-<lb/>
&#x017F;tande der höch&#x017F;ten Er&#x017F;chlaffung ihr von der Ma&#x017F;&#x017F;e aufgelegte<lb/>
Ne&#x017F;&#x017F;usgewand einer verderblichen Verfa&#x017F;&#x017F;ung von &#x017F;ich wirft,<lb/>
wenn das Schwert des Eroberers einen mor&#x017F;chen Staat zer-<lb/>
trümmert und dem be&#x017F;iegten Volke Ge&#x017F;etze auferlegt &#x2014; &#x2014; was<lb/>
antwortet darauf un&#x017F;ere Theorie von Recht und Gewalt? Sie<lb/>
erkennt die Aenderung als vollendete That&#x017F;ache, als rettende<lb/>
That an d. h. &#x017F;ie kann dem Ge&#x017F;tändniß nicht ausweichen, daß<lb/>
die Thatkraft als &#x017F;olche Recht tilgen und &#x017F;chaffen kann. Die<lb/>
Ge&#x017F;chichte mit ihren giganti&#x017F;chen, naturkraftartig wirkenden<lb/>
Mächten läßt &#x017F;ich nicht durch un&#x017F;er theoreti&#x017F;ches Spinnenge-<lb/>
webe fe&#x017F;&#x017F;eln; wenn &#x017F;ie lebendig wird, zerreißt &#x017F;ie es mit einem<lb/>
Schlage an allen Stellen und überläßt der Theorie die Mühe,<lb/>
es in veränderter Ge&#x017F;talt wieder zu&#x017F;ammen zu weben.</p><lb/>
                <p>Nun, was &#x017F;oll es? Sehen wir noch heutzutage, daß die<lb/>
Thatkraft das Recht gebiert, welche andere Mutter, als &#x017F;ie &#x017F;ollte<lb/>
das Recht am Anfang der Ge&#x017F;chichte gehabt haben? Nennen wir<lb/>
aber darum beide nicht eins, &#x017F;agen wir nicht, daß <hi rendition="#g">&#x017F;tatt</hi> des<lb/>
Rechts die Gewalt regiert habe. Auch das Recht war da, wenn<lb/>
auch in ganz anderer Wei&#x017F;e als heutzutage; nicht nämlich als<lb/>
eine objektive Macht, die &#x017F;ich durch &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t verwirklicht, &#x017F;on-<lb/>
dern als innerliche, als &#x017F;ubjektives Rechtsgefühl. Was die<lb/>
Thatkraft ge&#x017F;chaffen, was &#x017F;ie erworben und erkämpft, dem drückte<lb/>
das Rechtsgefühl &#x017F;einen Stempel auf, machte es zu einem Theile<lb/>
der Per&#x017F;on &#x017F;elb&#x017F;t und verdoppelte damit die Kraft, mit der es<lb/>
behauptet ward. Der er&#x017F;te An&#x017F;atz des Rechtsgefühls i&#x017F;t das Ge-<lb/>
fühl der <hi rendition="#g">eignen</hi> Berechtigung, ge&#x017F;tützt auf die Bewährung der<lb/>
eignen Kraft und gerichtet auf die Re&#x017F;ultate der&#x017F;elben. Dies<lb/>
Gefühl involvirt begrifflich freilich auch die Anerkennung des<lb/>
fremden Rechtsgefühls, aber prakti&#x017F;ch entwickelt &#x017F;ich die Achtung<lb/>
vor dem Rechte Anderer nur &#x017F;ehr müh&#x017F;am und allmählig. Ur-<lb/>
&#x017F;prünglich i&#x017F;t &#x017F;ie auf den engen Kreis der Geno&#x017F;&#x017F;en be&#x017F;chränkt;<lb/>
wer draußen &#x017F;teht, i&#x017F;t rechtlos, gegen ihn mag man der Gewalt<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[105/0123] I. Prinzip des ſubjektiven Willens. §. 10. die Weltgeſchichte arbeitet. Wenn ein unterdrücktes Volk ſich ſeines Tyrannen entledigt, wenn eine Regierung das im Zu- ſtande der höchſten Erſchlaffung ihr von der Maſſe aufgelegte Neſſusgewand einer verderblichen Verfaſſung von ſich wirft, wenn das Schwert des Eroberers einen morſchen Staat zer- trümmert und dem beſiegten Volke Geſetze auferlegt — — was antwortet darauf unſere Theorie von Recht und Gewalt? Sie erkennt die Aenderung als vollendete Thatſache, als rettende That an d. h. ſie kann dem Geſtändniß nicht ausweichen, daß die Thatkraft als ſolche Recht tilgen und ſchaffen kann. Die Geſchichte mit ihren gigantiſchen, naturkraftartig wirkenden Mächten läßt ſich nicht durch unſer theoretiſches Spinnenge- webe feſſeln; wenn ſie lebendig wird, zerreißt ſie es mit einem Schlage an allen Stellen und überläßt der Theorie die Mühe, es in veränderter Geſtalt wieder zuſammen zu weben. Nun, was ſoll es? Sehen wir noch heutzutage, daß die Thatkraft das Recht gebiert, welche andere Mutter, als ſie ſollte das Recht am Anfang der Geſchichte gehabt haben? Nennen wir aber darum beide nicht eins, ſagen wir nicht, daß ſtatt des Rechts die Gewalt regiert habe. Auch das Recht war da, wenn auch in ganz anderer Weiſe als heutzutage; nicht nämlich als eine objektive Macht, die ſich durch ſich ſelbſt verwirklicht, ſon- dern als innerliche, als ſubjektives Rechtsgefühl. Was die Thatkraft geſchaffen, was ſie erworben und erkämpft, dem drückte das Rechtsgefühl ſeinen Stempel auf, machte es zu einem Theile der Perſon ſelbſt und verdoppelte damit die Kraft, mit der es behauptet ward. Der erſte Anſatz des Rechtsgefühls iſt das Ge- fühl der eignen Berechtigung, geſtützt auf die Bewährung der eignen Kraft und gerichtet auf die Reſultate derſelben. Dies Gefühl involvirt begrifflich freilich auch die Anerkennung des fremden Rechtsgefühls, aber praktiſch entwickelt ſich die Achtung vor dem Rechte Anderer nur ſehr mühſam und allmählig. Ur- ſprünglich iſt ſie auf den engen Kreis der Genoſſen beſchränkt; wer draußen ſteht, iſt rechtlos, gegen ihn mag man der Gewalt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/123
Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/123>, abgerufen am 15.05.2024.