Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

Bild:
<< vorherige Seite

Erstes Buch -- Ausgangspunkte des röm. Rechts.
men entkleidet und die demselben zu Grunde liegenden Ideen
nackt und rein hinzustellen versucht. Der Grund, warum dies
geschah, war nicht sowohl der Wunsch über die historische Zeit
hinaus einen Blick zu werfen in eine ungekannte Vorzeit, als
die Hoffnung, auf diesem Wege das richtige Verständniß des
Systems der historischen Zeit sicher zu stellen. Indem wir uns
jetzt letzterm zuwenden, soll also als die dasselbe durchdringende
Grundanschauung nachgewiesen werden der Gedanke, daß der
Urquell des Rechts nicht im Staat, sondern im Individuum
liegt, und daß folglich auch die Verwirklichung des Rechts nicht
Sache des Staats, sondern des Berechtigten selbst ist. Zu dem
Zweck wollen wir 1) den Umfang und die Bedeutung der Selbst-
hülfe im ältern Recht kennen lernen und 2) nachweisen, daß der
römische Prozeß auf der vertragsmäßigen Entscheidung durch
die Partheien beruht.

1. Die Selbsthülfe ist im ältern Recht nicht bloß nicht ver-
boten, sondern eine wesentliche Voraussetzung der ganzen Rechts-
ordnung.

Das Recht der Republik kennt keine Verwirklichung des
Rechts von Staatswegen, sondern überläßt sie lediglich dem
Berechtigten, geht damit also von der im vorigen Paragraphen
begründeten Annahme aus, daß letzterer sich stets die erforder-
lichen Mittel verschaffen werde, um einen etwaigen Wider-
standsversuch des Gegners zu brechen. Nirgends wird meines
Wissens des Bedürfnisses oder nur der Möglichkeit einer amt-
lichen Mitwirkung bei der Privatexekution gedacht.

Es gibt nun zwei Arten der Selbsthülfe, die solenne in
Form der legis actio und die formlose. Die solenne, bei der
es namentlich des Aussprechens einer gewissen Formel be-
darf, ist in Anwendung auf Personen die manus injectio, auf
Sachen die pignoris capio. Für beide Fälle stellt das Recht be-
sondere Voraussetzungen auf, die theils die Natur des gel-
tend zu machenden Anspruches, theils dessen formelle Wahrheit

Erſtes Buch — Ausgangspunkte des röm. Rechts.
men entkleidet und die demſelben zu Grunde liegenden Ideen
nackt und rein hinzuſtellen verſucht. Der Grund, warum dies
geſchah, war nicht ſowohl der Wunſch über die hiſtoriſche Zeit
hinaus einen Blick zu werfen in eine ungekannte Vorzeit, als
die Hoffnung, auf dieſem Wege das richtige Verſtändniß des
Syſtems der hiſtoriſchen Zeit ſicher zu ſtellen. Indem wir uns
jetzt letzterm zuwenden, ſoll alſo als die daſſelbe durchdringende
Grundanſchauung nachgewieſen werden der Gedanke, daß der
Urquell des Rechts nicht im Staat, ſondern im Individuum
liegt, und daß folglich auch die Verwirklichung des Rechts nicht
Sache des Staats, ſondern des Berechtigten ſelbſt iſt. Zu dem
Zweck wollen wir 1) den Umfang und die Bedeutung der Selbſt-
hülfe im ältern Recht kennen lernen und 2) nachweiſen, daß der
römiſche Prozeß auf der vertragsmäßigen Entſcheidung durch
die Partheien beruht.

1. Die Selbſthülfe iſt im ältern Recht nicht bloß nicht ver-
boten, ſondern eine weſentliche Vorausſetzung der ganzen Rechts-
ordnung.

Das Recht der Republik kennt keine Verwirklichung des
Rechts von Staatswegen, ſondern überläßt ſie lediglich dem
Berechtigten, geht damit alſo von der im vorigen Paragraphen
begründeten Annahme aus, daß letzterer ſich ſtets die erforder-
lichen Mittel verſchaffen werde, um einen etwaigen Wider-
ſtandsverſuch des Gegners zu brechen. Nirgends wird meines
Wiſſens des Bedürfniſſes oder nur der Möglichkeit einer amt-
lichen Mitwirkung bei der Privatexekution gedacht.

Es gibt nun zwei Arten der Selbſthülfe, die ſolenne in
Form der legis actio und die formloſe. Die ſolenne, bei der
es namentlich des Ausſprechens einer gewiſſen Formel be-
darf, iſt in Anwendung auf Perſonen die manus injectio, auf
Sachen die pignoris capio. Für beide Fälle ſtellt das Recht be-
ſondere Vorausſetzungen auf, die theils die Natur des gel-
tend zu machenden Anſpruches, theils deſſen formelle Wahrheit

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0164" n="146"/><fw place="top" type="header">Er&#x017F;tes Buch &#x2014; Ausgangspunkte des röm. Rechts.</fw><lb/>
men entkleidet und die dem&#x017F;elben zu Grunde liegenden Ideen<lb/>
nackt und rein hinzu&#x017F;tellen ver&#x017F;ucht. Der Grund, warum dies<lb/>
ge&#x017F;chah, war nicht &#x017F;owohl der Wun&#x017F;ch über die hi&#x017F;tori&#x017F;che Zeit<lb/>
hinaus einen Blick zu werfen in eine ungekannte Vorzeit, als<lb/>
die Hoffnung, auf die&#x017F;em Wege das richtige Ver&#x017F;tändniß des<lb/>
Sy&#x017F;tems der hi&#x017F;tori&#x017F;chen Zeit &#x017F;icher zu &#x017F;tellen. Indem wir uns<lb/>
jetzt letzterm zuwenden, &#x017F;oll al&#x017F;o als die da&#x017F;&#x017F;elbe durchdringende<lb/>
Grundan&#x017F;chauung nachgewie&#x017F;en werden der Gedanke, daß der<lb/>
Urquell des Rechts nicht im Staat, &#x017F;ondern im Individuum<lb/>
liegt, und daß folglich auch die Verwirklichung des Rechts nicht<lb/>
Sache des Staats, &#x017F;ondern des Berechtigten &#x017F;elb&#x017F;t i&#x017F;t. Zu dem<lb/>
Zweck wollen wir 1) den Umfang und die Bedeutung der Selb&#x017F;t-<lb/>
hülfe im ältern Recht kennen lernen und 2) nachwei&#x017F;en, daß der<lb/>
römi&#x017F;che Prozeß auf der vertragsmäßigen Ent&#x017F;cheidung durch<lb/>
die Partheien beruht.</p><lb/>
                <p>1. Die Selb&#x017F;thülfe i&#x017F;t im ältern Recht nicht bloß nicht ver-<lb/>
boten, &#x017F;ondern eine we&#x017F;entliche Voraus&#x017F;etzung der ganzen Rechts-<lb/>
ordnung.</p><lb/>
                <p>Das Recht der Republik kennt keine Verwirklichung des<lb/>
Rechts von Staatswegen, &#x017F;ondern überläßt &#x017F;ie lediglich dem<lb/>
Berechtigten, geht damit al&#x017F;o von der im vorigen Paragraphen<lb/>
begründeten Annahme aus, daß letzterer &#x017F;ich &#x017F;tets die erforder-<lb/>
lichen Mittel ver&#x017F;chaffen werde, um einen etwaigen Wider-<lb/>
&#x017F;tandsver&#x017F;uch des Gegners zu brechen. Nirgends wird meines<lb/>
Wi&#x017F;&#x017F;ens des Bedürfni&#x017F;&#x017F;es oder nur der Möglichkeit einer amt-<lb/>
lichen Mitwirkung bei der Privatexekution gedacht.</p><lb/>
                <p>Es gibt nun zwei Arten der Selb&#x017F;thülfe, die &#x017F;olenne in<lb/>
Form der <hi rendition="#aq">legis actio</hi> und die formlo&#x017F;e. Die &#x017F;olenne, bei der<lb/>
es namentlich des Aus&#x017F;prechens einer gewi&#x017F;&#x017F;en Formel be-<lb/>
darf, i&#x017F;t in Anwendung auf Per&#x017F;onen die <hi rendition="#aq">manus injectio,</hi> auf<lb/>
Sachen die <hi rendition="#aq">pignoris capio.</hi> Für beide Fälle &#x017F;tellt das Recht be-<lb/>
&#x017F;ondere Voraus&#x017F;etzungen auf, die theils die Natur des gel-<lb/>
tend zu machenden An&#x017F;pruches, theils de&#x017F;&#x017F;en formelle Wahrheit<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[146/0164] Erſtes Buch — Ausgangspunkte des röm. Rechts. men entkleidet und die demſelben zu Grunde liegenden Ideen nackt und rein hinzuſtellen verſucht. Der Grund, warum dies geſchah, war nicht ſowohl der Wunſch über die hiſtoriſche Zeit hinaus einen Blick zu werfen in eine ungekannte Vorzeit, als die Hoffnung, auf dieſem Wege das richtige Verſtändniß des Syſtems der hiſtoriſchen Zeit ſicher zu ſtellen. Indem wir uns jetzt letzterm zuwenden, ſoll alſo als die daſſelbe durchdringende Grundanſchauung nachgewieſen werden der Gedanke, daß der Urquell des Rechts nicht im Staat, ſondern im Individuum liegt, und daß folglich auch die Verwirklichung des Rechts nicht Sache des Staats, ſondern des Berechtigten ſelbſt iſt. Zu dem Zweck wollen wir 1) den Umfang und die Bedeutung der Selbſt- hülfe im ältern Recht kennen lernen und 2) nachweiſen, daß der römiſche Prozeß auf der vertragsmäßigen Entſcheidung durch die Partheien beruht. 1. Die Selbſthülfe iſt im ältern Recht nicht bloß nicht ver- boten, ſondern eine weſentliche Vorausſetzung der ganzen Rechts- ordnung. Das Recht der Republik kennt keine Verwirklichung des Rechts von Staatswegen, ſondern überläßt ſie lediglich dem Berechtigten, geht damit alſo von der im vorigen Paragraphen begründeten Annahme aus, daß letzterer ſich ſtets die erforder- lichen Mittel verſchaffen werde, um einen etwaigen Wider- ſtandsverſuch des Gegners zu brechen. Nirgends wird meines Wiſſens des Bedürfniſſes oder nur der Möglichkeit einer amt- lichen Mitwirkung bei der Privatexekution gedacht. Es gibt nun zwei Arten der Selbſthülfe, die ſolenne in Form der legis actio und die formloſe. Die ſolenne, bei der es namentlich des Ausſprechens einer gewiſſen Formel be- darf, iſt in Anwendung auf Perſonen die manus injectio, auf Sachen die pignoris capio. Für beide Fälle ſtellt das Recht be- ſondere Vorausſetzungen auf, die theils die Natur des gel- tend zu machenden Anſpruches, theils deſſen formelle Wahrheit

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/164
Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 146. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/164>, abgerufen am 16.05.2024.