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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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Zweit. Buch. Erst. Abschn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
gegenwärtige System haben wir dies Prinzip aus Gründen,
die später erhellen werden, an zwei verschiedenen Stellen zu be-
handeln, bei Gelegenheit der Theorie des subjektiven Willens
und an der gegenwärtigen Stelle.

Aus unserem Prinzip folgt für das Verhältniß des Staats
zu dem Recht des Subjekts zweierlei: einmal, daß er dies Recht
nicht willkührlich entziehen darf -- davon ist oben S. 59 bereits
die Rede gewesen 158) -- sodann, daß er den Inhalt desselben nicht
beliebig beschränken darf, sondern im Wesentlichen die ganze Fülle
der Machtbefugniß, die die Natur des Rechts mit sich bringt,
dem Subjekt zu belassen hat. Daß nun das römische Recht dieser
Anforderung entsprochen hat, soll jetzt nachgewiesen werden.

Das Prisma, durch welches das ältere Recht sämmtliche
Verhältnisse, in denen das individuelle Leben sich bewegt, be-
trachtete, war der Gedanke der Herrschaft. Mochten dieselben
hinsichtlich ihrer eigentlichen Bedeutung und Bestimmung für
das Leben auch noch so wenig durch diesen Gesichtspunkt ge-
deckt oder ergriffen werden, für das Recht kam nur letzterer in
Betracht. Daraus darf man aber nicht folgern, als wenn die
Römer jene Verhältnisse lediglich als rein rechtliche aufgefaßt,
die über das Recht hinausgehende höhere Bestimmung derselben
gar nicht bemerkt, ihren sonstigen Inhalt für gleichgültig oder
überflüssig gehalten hätten; man denke z. B. an die Ehe, die

158) Ich füge nachträglich nur noch einige Zeugnisse für die dort ver-
fochtene Ansicht bei, nämlich Liv. XXXI. 13 (das musterhafte Verfahren
des Staats gegen die Staatsgläubiger), sodann Val. Max. VI. 2. 12. (recht-
liche Auffassung politischer Gewaltmaßregeln), Expropriationen gegen Ent-
schädigung: das SC. de aquaeduct. bei Frontin: de aquaed. c. 125 (bei
Briss. de form. lib. II. c. 81), und die interessante Aeußerung Frontins c.
128: .. cum majores nostri admirabili aequitate ne ea quidem eripuere
privatis, quae ad modum publicum pertinebant. Sed cum aquas perdu-
cerent, si difficilior possessor in parte vendenda fuerat, pro toto agro
pecuniam intulerunt, et post determinata necessaria loca rursus eum
agrum vendiderunt, ut in suis finibus proprium jus tam res
publica, quam privata haberent
. Val. Max. V. 6. 8, L. 12 pr.
de relig. (11. 7)
.

Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
gegenwärtige Syſtem haben wir dies Prinzip aus Gründen,
die ſpäter erhellen werden, an zwei verſchiedenen Stellen zu be-
handeln, bei Gelegenheit der Theorie des ſubjektiven Willens
und an der gegenwärtigen Stelle.

Aus unſerem Prinzip folgt für das Verhältniß des Staats
zu dem Recht des Subjekts zweierlei: einmal, daß er dies Recht
nicht willkührlich entziehen darf — davon iſt oben S. 59 bereits
die Rede geweſen 158) — ſodann, daß er den Inhalt deſſelben nicht
beliebig beſchränken darf, ſondern im Weſentlichen die ganze Fülle
der Machtbefugniß, die die Natur des Rechts mit ſich bringt,
dem Subjekt zu belaſſen hat. Daß nun das römiſche Recht dieſer
Anforderung entſprochen hat, ſoll jetzt nachgewieſen werden.

Das Prisma, durch welches das ältere Recht ſämmtliche
Verhältniſſe, in denen das individuelle Leben ſich bewegt, be-
trachtete, war der Gedanke der Herrſchaft. Mochten dieſelben
hinſichtlich ihrer eigentlichen Bedeutung und Beſtimmung für
das Leben auch noch ſo wenig durch dieſen Geſichtspunkt ge-
deckt oder ergriffen werden, für das Recht kam nur letzterer in
Betracht. Daraus darf man aber nicht folgern, als wenn die
Römer jene Verhältniſſe lediglich als rein rechtliche aufgefaßt,
die über das Recht hinausgehende höhere Beſtimmung derſelben
gar nicht bemerkt, ihren ſonſtigen Inhalt für gleichgültig oder
überflüſſig gehalten hätten; man denke z. B. an die Ehe, die

158) Ich füge nachträglich nur noch einige Zeugniſſe für die dort ver-
fochtene Anſicht bei, nämlich Liv. XXXI. 13 (das muſterhafte Verfahren
des Staats gegen die Staatsgläubiger), ſodann Val. Max. VI. 2. 12. (recht-
liche Auffaſſung politiſcher Gewaltmaßregeln), Expropriationen gegen Ent-
ſchädigung: das SC. de aquaeduct. bei Frontin: de aquaed. c. 125 (bei
Briss. de form. lib. II. c. 81), und die intereſſante Aeußerung Frontins c.
128: .. cum majores nostri admirabili aequitate ne ea quidem eripuere
privatis, quae ad modum publicum pertinebant. Sed cum aquas perdu-
cerent, si difficilior possessor in parte vendenda fuerat, pro toto agro
pecuniam intulerunt, et post determinata necessaria loca rursus eum
agrum vendiderunt, ut in suis finibus proprium jus tam res
publica, quam privata haberent
. Val. Max. V. 6. 8, L. 12 pr.
de relig. (11. 7)
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[142/0156] Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb. gegenwärtige Syſtem haben wir dies Prinzip aus Gründen, die ſpäter erhellen werden, an zwei verſchiedenen Stellen zu be- handeln, bei Gelegenheit der Theorie des ſubjektiven Willens und an der gegenwärtigen Stelle. Aus unſerem Prinzip folgt für das Verhältniß des Staats zu dem Recht des Subjekts zweierlei: einmal, daß er dies Recht nicht willkührlich entziehen darf — davon iſt oben S. 59 bereits die Rede geweſen 158) — ſodann, daß er den Inhalt deſſelben nicht beliebig beſchränken darf, ſondern im Weſentlichen die ganze Fülle der Machtbefugniß, die die Natur des Rechts mit ſich bringt, dem Subjekt zu belaſſen hat. Daß nun das römiſche Recht dieſer Anforderung entſprochen hat, ſoll jetzt nachgewieſen werden. Das Prisma, durch welches das ältere Recht ſämmtliche Verhältniſſe, in denen das individuelle Leben ſich bewegt, be- trachtete, war der Gedanke der Herrſchaft. Mochten dieſelben hinſichtlich ihrer eigentlichen Bedeutung und Beſtimmung für das Leben auch noch ſo wenig durch dieſen Geſichtspunkt ge- deckt oder ergriffen werden, für das Recht kam nur letzterer in Betracht. Daraus darf man aber nicht folgern, als wenn die Römer jene Verhältniſſe lediglich als rein rechtliche aufgefaßt, die über das Recht hinausgehende höhere Beſtimmung derſelben gar nicht bemerkt, ihren ſonſtigen Inhalt für gleichgültig oder überflüſſig gehalten hätten; man denke z. B. an die Ehe, die 158) Ich füge nachträglich nur noch einige Zeugniſſe für die dort ver- fochtene Anſicht bei, nämlich Liv. XXXI. 13 (das muſterhafte Verfahren des Staats gegen die Staatsgläubiger), ſodann Val. Max. VI. 2. 12. (recht- liche Auffaſſung politiſcher Gewaltmaßregeln), Expropriationen gegen Ent- ſchädigung: das SC. de aquaeduct. bei Frontin: de aquaed. c. 125 (bei Briss. de form. lib. II. c. 81), und die intereſſante Aeußerung Frontins c. 128: .. cum majores nostri admirabili aequitate ne ea quidem eripuere privatis, quae ad modum publicum pertinebant. Sed cum aquas perdu- cerent, si difficilior possessor in parte vendenda fuerat, pro toto agro pecuniam intulerunt, et post determinata necessaria loca rursus eum agrum vendiderunt, ut in suis finibus proprium jus tam res publica, quam privata haberent. Val. Max. V. 6. 8, L. 12 pr. de relig. (11. 7).

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 142. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/156>, abgerufen am 23.11.2024.