Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

A. Stellung des Indiv. Hausherrl. Gewalt. Das Familienleben. §. 32.
Leben des Einzelnen und einen Einfluß auf dasselbe zu gewäh-
ren, wie er ihr nicht häufig zu Theil geworden ist.

Wir haben es hier also mit einem Institut der Sitte zu
thun, und die Unbestimmtheit und Biegsamkeit, die wir oben
(§. 25) als den Charakterzug der Sitte haben kennen lernen,
äußert sich hier in mannichfacher Weise. Theils nämlich hin-
sichtlich des Begriffs der Familie, es ist nicht der juristische,
der der Agnaten, sondern der der natürlichen Familie, 325) der
Kreis der Blutsverwandten, ja so wenig ist dieser Kreis abge-
schlossen, daß auch die nähern Freunde 326) zu ihm hinzugezogen
werden. Man könnte sagen: es ist die ethische Umgebung
des Subjekts
, der Umkreis, innerhalb dessen seine sittlich
häusliche Existenz ihre Wurzeln treibt, der Chor, der, wie
im griechischen Drama, ihn durch Billigung und Mißbilligung
bei seinen Handlungen bestimmen soll, und von dessen Gunst
oder Ungunst, Beistand oder Theilnahmlosigkeit die Behaglich-
keit seiner Existenz abhängt. Wer diesen Chor mit bildet, ob
alle Verwandte, oder nur bis zu einem gewissen Grade, ob
auch die Freunde u. s. w., darüber hat die Sitte keine Norm;
möge der Einzelne im einzelnen Fall selbst bestimmen, wen er
zu den propinqui, necessarii, amici u. s. w. rechnet. Die Un-
bestimmtheit des Instituts äußert sich ferner darin, daß die un-
terlassene Zuziehung jener Personen in Fällen, wo dieselbe hätte
Statt finden sollen, bald als arger Verstoß gegen die Sitte all-

325) Darauf weisen nicht bloß die Ausdrücke propinqui, amici, cognati
u. s. w. hin, sondern hinsichtlich des Verwandtengerichts über die Ehefrau in
manu
verstand es sich von selbst, daß man die Verwandten von ihrer Seite,
also die Cognaten nicht übergehen konnte.
326) Mitunter sogar fern stehende Personen von Rang z. B. August bei
Seneca de clement. c. 15. Ja bei Val. Max. V. 9, 1 wurde ein großer
Theil des Senats zugezogen. Nach Klenze in der Zeitsch. VI. S. 31 "ge-
winnt das ganze Hausgericht erst eine feste Gestalt durch feste Regeln über
die Berufung der Richter." Als ob es sich hier um etwas Festes, um ein
Rechtsinstitut handelte!

A. Stellung des Indiv. Hausherrl. Gewalt. Das Familienleben. §. 32.
Leben des Einzelnen und einen Einfluß auf daſſelbe zu gewäh-
ren, wie er ihr nicht häufig zu Theil geworden iſt.

Wir haben es hier alſo mit einem Inſtitut der Sitte zu
thun, und die Unbeſtimmtheit und Biegſamkeit, die wir oben
(§. 25) als den Charakterzug der Sitte haben kennen lernen,
äußert ſich hier in mannichfacher Weiſe. Theils nämlich hin-
ſichtlich des Begriffs der Familie, es iſt nicht der juriſtiſche,
der der Agnaten, ſondern der der natürlichen Familie, 325) der
Kreis der Blutsverwandten, ja ſo wenig iſt dieſer Kreis abge-
ſchloſſen, daß auch die nähern Freunde 326) zu ihm hinzugezogen
werden. Man könnte ſagen: es iſt die ethiſche Umgebung
des Subjekts
, der Umkreis, innerhalb deſſen ſeine ſittlich
häusliche Exiſtenz ihre Wurzeln treibt, der Chor, der, wie
im griechiſchen Drama, ihn durch Billigung und Mißbilligung
bei ſeinen Handlungen beſtimmen ſoll, und von deſſen Gunſt
oder Ungunſt, Beiſtand oder Theilnahmloſigkeit die Behaglich-
keit ſeiner Exiſtenz abhängt. Wer dieſen Chor mit bildet, ob
alle Verwandte, oder nur bis zu einem gewiſſen Grade, ob
auch die Freunde u. ſ. w., darüber hat die Sitte keine Norm;
möge der Einzelne im einzelnen Fall ſelbſt beſtimmen, wen er
zu den propinqui, necessarii, amici u. ſ. w. rechnet. Die Un-
beſtimmtheit des Inſtituts äußert ſich ferner darin, daß die un-
terlaſſene Zuziehung jener Perſonen in Fällen, wo dieſelbe hätte
Statt finden ſollen, bald als arger Verſtoß gegen die Sitte all-

325) Darauf weiſen nicht bloß die Ausdrücke propinqui, amici, cognati
u. ſ. w. hin, ſondern hinſichtlich des Verwandtengerichts über die Ehefrau in
manu
verſtand es ſich von ſelbſt, daß man die Verwandten von ihrer Seite,
alſo die Cognaten nicht übergehen konnte.
326) Mitunter ſogar fern ſtehende Perſonen von Rang z. B. Auguſt bei
Seneca de clement. c. 15. Ja bei Val. Max. V. 9, 1 wurde ein großer
Theil des Senats zugezogen. Nach Klenze in der Zeitſch. VI. S. 31 „ge-
winnt das ganze Hausgericht erſt eine feſte Geſtalt durch feſte Regeln über
die Berufung der Richter.“ Als ob es ſich hier um etwas Feſtes, um ein
Rechtsinſtitut handelte!
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <div n="8">
                      <p><pb facs="#f0231" n="217"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">A.</hi> Stellung des Indiv. Hausherrl. Gewalt. Das Familienleben. §. 32.</fw><lb/>
Leben des Einzelnen und einen Einfluß auf da&#x017F;&#x017F;elbe zu gewäh-<lb/>
ren, wie er ihr nicht häufig zu Theil geworden i&#x017F;t.</p><lb/>
                      <p>Wir haben es hier al&#x017F;o mit einem In&#x017F;titut der Sitte zu<lb/>
thun, und die Unbe&#x017F;timmtheit und Bieg&#x017F;amkeit, die wir oben<lb/>
(§. 25) als den Charakterzug der Sitte haben kennen lernen,<lb/>
äußert &#x017F;ich hier in mannichfacher Wei&#x017F;e. Theils nämlich hin-<lb/>
&#x017F;ichtlich des <hi rendition="#g">Begriffs</hi> der Familie, es i&#x017F;t nicht der juri&#x017F;ti&#x017F;che,<lb/>
der der Agnaten, &#x017F;ondern der der natürlichen Familie, <note place="foot" n="325)">Darauf wei&#x017F;en nicht bloß die Ausdrücke <hi rendition="#aq">propinqui, amici, cognati</hi><lb/>
u. &#x017F;. w. hin, &#x017F;ondern hin&#x017F;ichtlich des Verwandtengerichts über die Ehefrau <hi rendition="#aq">in<lb/>
manu</hi> ver&#x017F;tand es &#x017F;ich von &#x017F;elb&#x017F;t, daß man die Verwandten von <hi rendition="#g">ihrer</hi> Seite,<lb/>
al&#x017F;o die Cognaten nicht übergehen konnte.</note> der<lb/>
Kreis der <hi rendition="#g">Bluts</hi>verwandten, ja &#x017F;o wenig i&#x017F;t die&#x017F;er Kreis abge-<lb/>
&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en, daß auch die nähern Freunde <note place="foot" n="326)">Mitunter &#x017F;ogar fern &#x017F;tehende Per&#x017F;onen von Rang z. B. Augu&#x017F;t bei<lb/><hi rendition="#aq">Seneca de clement. c.</hi> 15. Ja bei <hi rendition="#aq">Val. Max. V.</hi> 9, 1 wurde ein großer<lb/>
Theil des Senats zugezogen. Nach Klenze in der Zeit&#x017F;ch. <hi rendition="#aq">VI.</hi> S. 31 &#x201E;ge-<lb/>
winnt das ganze Hausgericht er&#x017F;t eine <hi rendition="#g">fe&#x017F;te</hi> Ge&#x017F;talt durch <hi rendition="#g">fe&#x017F;te</hi> Regeln über<lb/>
die Berufung der Richter.&#x201C; Als ob es &#x017F;ich hier um etwas <hi rendition="#g">Fe&#x017F;tes</hi>, um ein<lb/><hi rendition="#g">Rechts</hi>in&#x017F;titut handelte!</note> zu ihm hinzugezogen<lb/>
werden. Man könnte &#x017F;agen: es i&#x017F;t die <hi rendition="#g">ethi&#x017F;che Umgebung<lb/>
des Subjekts</hi>, der Umkreis, innerhalb de&#x017F;&#x017F;en &#x017F;eine &#x017F;ittlich<lb/>
häusliche Exi&#x017F;tenz ihre Wurzeln treibt, der Chor, der, wie<lb/>
im griechi&#x017F;chen Drama, ihn durch Billigung und Mißbilligung<lb/>
bei &#x017F;einen Handlungen be&#x017F;timmen &#x017F;oll, und von de&#x017F;&#x017F;en Gun&#x017F;t<lb/>
oder Ungun&#x017F;t, Bei&#x017F;tand oder Theilnahmlo&#x017F;igkeit die Behaglich-<lb/>
keit &#x017F;einer Exi&#x017F;tenz abhängt. Wer die&#x017F;en Chor mit bildet, ob<lb/>
alle Verwandte, oder nur bis zu einem gewi&#x017F;&#x017F;en Grade, ob<lb/>
auch die Freunde u. &#x017F;. w., darüber hat die Sitte keine Norm;<lb/>
möge der Einzelne im einzelnen Fall &#x017F;elb&#x017F;t be&#x017F;timmen, wen er<lb/>
zu den <hi rendition="#aq">propinqui, necessarii, amici</hi> u. &#x017F;. w. rechnet. Die Un-<lb/>
be&#x017F;timmtheit des In&#x017F;tituts äußert &#x017F;ich ferner darin, daß die un-<lb/>
terla&#x017F;&#x017F;ene Zuziehung jener Per&#x017F;onen in Fällen, wo die&#x017F;elbe hätte<lb/>
Statt finden &#x017F;ollen, bald als arger Ver&#x017F;toß gegen die Sitte all-<lb/></p>
                    </div>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[217/0231] A. Stellung des Indiv. Hausherrl. Gewalt. Das Familienleben. §. 32. Leben des Einzelnen und einen Einfluß auf daſſelbe zu gewäh- ren, wie er ihr nicht häufig zu Theil geworden iſt. Wir haben es hier alſo mit einem Inſtitut der Sitte zu thun, und die Unbeſtimmtheit und Biegſamkeit, die wir oben (§. 25) als den Charakterzug der Sitte haben kennen lernen, äußert ſich hier in mannichfacher Weiſe. Theils nämlich hin- ſichtlich des Begriffs der Familie, es iſt nicht der juriſtiſche, der der Agnaten, ſondern der der natürlichen Familie, 325) der Kreis der Blutsverwandten, ja ſo wenig iſt dieſer Kreis abge- ſchloſſen, daß auch die nähern Freunde 326) zu ihm hinzugezogen werden. Man könnte ſagen: es iſt die ethiſche Umgebung des Subjekts, der Umkreis, innerhalb deſſen ſeine ſittlich häusliche Exiſtenz ihre Wurzeln treibt, der Chor, der, wie im griechiſchen Drama, ihn durch Billigung und Mißbilligung bei ſeinen Handlungen beſtimmen ſoll, und von deſſen Gunſt oder Ungunſt, Beiſtand oder Theilnahmloſigkeit die Behaglich- keit ſeiner Exiſtenz abhängt. Wer dieſen Chor mit bildet, ob alle Verwandte, oder nur bis zu einem gewiſſen Grade, ob auch die Freunde u. ſ. w., darüber hat die Sitte keine Norm; möge der Einzelne im einzelnen Fall ſelbſt beſtimmen, wen er zu den propinqui, necessarii, amici u. ſ. w. rechnet. Die Un- beſtimmtheit des Inſtituts äußert ſich ferner darin, daß die un- terlaſſene Zuziehung jener Perſonen in Fällen, wo dieſelbe hätte Statt finden ſollen, bald als arger Verſtoß gegen die Sitte all- 325) Darauf weiſen nicht bloß die Ausdrücke propinqui, amici, cognati u. ſ. w. hin, ſondern hinſichtlich des Verwandtengerichts über die Ehefrau in manu verſtand es ſich von ſelbſt, daß man die Verwandten von ihrer Seite, alſo die Cognaten nicht übergehen konnte. 326) Mitunter ſogar fern ſtehende Perſonen von Rang z. B. Auguſt bei Seneca de clement. c. 15. Ja bei Val. Max. V. 9, 1 wurde ein großer Theil des Senats zugezogen. Nach Klenze in der Zeitſch. VI. S. 31 „ge- winnt das ganze Hausgericht erſt eine feſte Geſtalt durch feſte Regeln über die Berufung der Richter.“ Als ob es ſich hier um etwas Feſtes, um ein Rechtsinſtitut handelte!

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/231
Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 217. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/231>, abgerufen am 21.11.2024.