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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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Zweit. Buch. Erst. Abschn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
allen Seiten zugänglich und durch Einflüsse, Rücksichten aller
Art temperirt.427) Frei dem Recht nach, war der Beamte um-
geben von einer unsichtbaren Gewalt, die ihn am Guten nicht
hinderte, aber bei jedem Versuch zum Schlechten zurückstieß. In
dieser unsichtbaren Gewalt und in dem Geist der Vaterlands-
liebe, Selbstverläugnung, Achtung gegen das Althergebrachte
u. s. w., den man bei dem Magistrat voraussetzen mußte und
konnte, steckte das beste Theil der römischen Verfassung, und erst
sie machten sie zu dem, was sie war. Abstrahiren wir von ihnen,
halten wir uns lediglich an den äußern Mechanismus der Ver-
fassung, an das abstracte Recht, dann freilich muß uns diese
Verfassung als eine der unvollkommensten erscheinen, die es je
gegeben hat, und die schlechteste von unseren modernen Consti-
tutionen würde sie unendlich übertreffen. Wüßten wir es nicht
sonst schon zur Genüge, so könnten wir uns hieraus die Lehre
entnehmen, daß der Werth einer Verfassung nicht durch die
Planmäßigkeit und Vollendung ihrer Structur, sondern den
Geist bedingt ist, in dem sie gehandhabt wird. Dieser Geist ist
bekanntlich durch kein Gesetz zu bannen oder zu gestalten, denn
er ist das Volk und die Zeit selber. Wo er der rechte ist, hat
die Gesetzgebung leichtes Spiel, und das war eben im ältern
Rom der Fall.

So brauchte sie namentlich also auch die Beamten nicht zu
unterweisen, was der rechte Gebrauch sei, unter welchen Vor-
aussetzungen er sich dieses und jenes Rechts zu bedienen habe
u. s. w. Daß nun in der That das Staatsrecht in dieser Be-
ziehung der Einsicht der Beamten fast alles überließ, darauf
müssen wir jetzt noch näher eingehen, als bisher geschehen
konnte.

Wenn ich zunächst behaupte, daß das geschriebene Recht,

427) Selbst durch den Einfluß der Familienverhältnisse z. B. die patria
potestas (Val. Max. V. 4, 5. V. 8, 3. Liv. II, 41)
die Agnaten und Gen-
tilen (s. z. B. Anm. 333).

Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
allen Seiten zugänglich und durch Einflüſſe, Rückſichten aller
Art temperirt.427) Frei dem Recht nach, war der Beamte um-
geben von einer unſichtbaren Gewalt, die ihn am Guten nicht
hinderte, aber bei jedem Verſuch zum Schlechten zurückſtieß. In
dieſer unſichtbaren Gewalt und in dem Geiſt der Vaterlands-
liebe, Selbſtverläugnung, Achtung gegen das Althergebrachte
u. ſ. w., den man bei dem Magiſtrat vorausſetzen mußte und
konnte, ſteckte das beſte Theil der römiſchen Verfaſſung, und erſt
ſie machten ſie zu dem, was ſie war. Abſtrahiren wir von ihnen,
halten wir uns lediglich an den äußern Mechanismus der Ver-
faſſung, an das abſtracte Recht, dann freilich muß uns dieſe
Verfaſſung als eine der unvollkommenſten erſcheinen, die es je
gegeben hat, und die ſchlechteſte von unſeren modernen Conſti-
tutionen würde ſie unendlich übertreffen. Wüßten wir es nicht
ſonſt ſchon zur Genüge, ſo könnten wir uns hieraus die Lehre
entnehmen, daß der Werth einer Verfaſſung nicht durch die
Planmäßigkeit und Vollendung ihrer Structur, ſondern den
Geiſt bedingt iſt, in dem ſie gehandhabt wird. Dieſer Geiſt iſt
bekanntlich durch kein Geſetz zu bannen oder zu geſtalten, denn
er iſt das Volk und die Zeit ſelber. Wo er der rechte iſt, hat
die Geſetzgebung leichtes Spiel, und das war eben im ältern
Rom der Fall.

So brauchte ſie namentlich alſo auch die Beamten nicht zu
unterweiſen, was der rechte Gebrauch ſei, unter welchen Vor-
ausſetzungen er ſich dieſes und jenes Rechts zu bedienen habe
u. ſ. w. Daß nun in der That das Staatsrecht in dieſer Be-
ziehung der Einſicht der Beamten faſt alles überließ, darauf
müſſen wir jetzt noch näher eingehen, als bisher geſchehen
konnte.

Wenn ich zunächſt behaupte, daß das geſchriebene Recht,

427) Selbſt durch den Einfluß der Familienverhältniſſe z. B. die patria
potestas (Val. Max. V. 4, 5. V. 8, 3. Liv. II, 41)
die Agnaten und Gen-
tilen (ſ. z. B. Anm. 333).
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[282/0296] Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb. allen Seiten zugänglich und durch Einflüſſe, Rückſichten aller Art temperirt. 427) Frei dem Recht nach, war der Beamte um- geben von einer unſichtbaren Gewalt, die ihn am Guten nicht hinderte, aber bei jedem Verſuch zum Schlechten zurückſtieß. In dieſer unſichtbaren Gewalt und in dem Geiſt der Vaterlands- liebe, Selbſtverläugnung, Achtung gegen das Althergebrachte u. ſ. w., den man bei dem Magiſtrat vorausſetzen mußte und konnte, ſteckte das beſte Theil der römiſchen Verfaſſung, und erſt ſie machten ſie zu dem, was ſie war. Abſtrahiren wir von ihnen, halten wir uns lediglich an den äußern Mechanismus der Ver- faſſung, an das abſtracte Recht, dann freilich muß uns dieſe Verfaſſung als eine der unvollkommenſten erſcheinen, die es je gegeben hat, und die ſchlechteſte von unſeren modernen Conſti- tutionen würde ſie unendlich übertreffen. Wüßten wir es nicht ſonſt ſchon zur Genüge, ſo könnten wir uns hieraus die Lehre entnehmen, daß der Werth einer Verfaſſung nicht durch die Planmäßigkeit und Vollendung ihrer Structur, ſondern den Geiſt bedingt iſt, in dem ſie gehandhabt wird. Dieſer Geiſt iſt bekanntlich durch kein Geſetz zu bannen oder zu geſtalten, denn er iſt das Volk und die Zeit ſelber. Wo er der rechte iſt, hat die Geſetzgebung leichtes Spiel, und das war eben im ältern Rom der Fall. So brauchte ſie namentlich alſo auch die Beamten nicht zu unterweiſen, was der rechte Gebrauch ſei, unter welchen Vor- ausſetzungen er ſich dieſes und jenes Rechts zu bedienen habe u. ſ. w. Daß nun in der That das Staatsrecht in dieſer Be- ziehung der Einſicht der Beamten faſt alles überließ, darauf müſſen wir jetzt noch näher eingehen, als bisher geſchehen konnte. Wenn ich zunächſt behaupte, daß das geſchriebene Recht, 427) Selbſt durch den Einfluß der Familienverhältniſſe z. B. die patria potestas (Val. Max. V. 4, 5. V. 8, 3. Liv. II, 41) die Agnaten und Gen- tilen (ſ. z. B. Anm. 333).

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 282. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/296>, abgerufen am 21.11.2024.