Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.I. Der Selbständigkeitstrieb. 2. Zu-Sich-Kommen des Rechts. §. 26. cher Form übernommen hatte. Und diese Form, in der ein soleichtes Kriterium alles Rechtlichen lag, war in hohem Grade ausgebildet, so daß das Rechtsgebiet wie durch sein materielles Prinzip, so auch durch seine formelle Aeußerlichkeit den unver- kennbarsten Gegensatz zu dem Reich der sittlichen Pflichten bil- dete. Wenn ein Römer eine Handlung vornahm z. B. ein Ver- sprechen ablegte, so war er sich stets bewußt, auf welchem von beiden Gebieten er sich bewegte. Ein juristisch und moralisch bindendes Versprechen, wie weit lagen sie in der Vorstellung der Römer auseinander, wie fließen sie in unserer heutigen Auf- fassung in einander über! Hat man doch für beide ein und das- selbe Prinzip aufgestellt: ein gegebenes Versprechen müsse ge- halten werden. Heutzutage ist es möglich, daß Jemand etwas verspricht, ohne sich darüber klar zu sein, ob er sich rechtlich oder bloß moralisch binden wolle, das Gebiet des Rechtlichen und Moralischen ist heutzutage nicht durch bestimmte äußerlich er- kennbare Gränzen geschieden, die den Uebergang von dem einen Gebiet zum andern nothwendigerweise ins Bewußtsein bringen. Bei den Römern hingegen lagen diese Gebiete weit auseinan- der, ihnen war der Gegensatz zwischen Recht und Moral im Ganzen sowohl wie in seiner Erstreckung und Anwendung auf die kleinsten Lebensverhältnisse geläufig und stets gegenwärtig, sie konnten nie in Versuchung kommen, eine sittliche Pflicht kla- geweis geltend zu machen oder sich mit einer moralischen Ver- pflichtung abfinden zu lassen, wo sie eine juristische hatten be- gründen wollen. Zu der Ansicht, von der wir hier ausgegangen sind, daß 43) C. A. Schmidt der prinzipielle Unterschied zwischen dem römischen
und germanischen Rechte. S. 66, 67. Es ist vielleicht selten ein verkehr- teres Urtheil über das römische Recht gefällt, und bedürfte es für mich einer Rechtfertigung meines ganzen Unternehmens, ich würde sie schon darin finden I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 2. Zu-Sich-Kommen des Rechts. §. 26. cher Form übernommen hatte. Und dieſe Form, in der ein ſoleichtes Kriterium alles Rechtlichen lag, war in hohem Grade ausgebildet, ſo daß das Rechtsgebiet wie durch ſein materielles Prinzip, ſo auch durch ſeine formelle Aeußerlichkeit den unver- kennbarſten Gegenſatz zu dem Reich der ſittlichen Pflichten bil- dete. Wenn ein Römer eine Handlung vornahm z. B. ein Ver- ſprechen ablegte, ſo war er ſich ſtets bewußt, auf welchem von beiden Gebieten er ſich bewegte. Ein juriſtiſch und moraliſch bindendes Verſprechen, wie weit lagen ſie in der Vorſtellung der Römer auseinander, wie fließen ſie in unſerer heutigen Auf- faſſung in einander über! Hat man doch für beide ein und das- ſelbe Prinzip aufgeſtellt: ein gegebenes Verſprechen müſſe ge- halten werden. Heutzutage iſt es möglich, daß Jemand etwas verſpricht, ohne ſich darüber klar zu ſein, ob er ſich rechtlich oder bloß moraliſch binden wolle, das Gebiet des Rechtlichen und Moraliſchen iſt heutzutage nicht durch beſtimmte äußerlich er- kennbare Gränzen geſchieden, die den Uebergang von dem einen Gebiet zum andern nothwendigerweiſe ins Bewußtſein bringen. Bei den Römern hingegen lagen dieſe Gebiete weit auseinan- der, ihnen war der Gegenſatz zwiſchen Recht und Moral im Ganzen ſowohl wie in ſeiner Erſtreckung und Anwendung auf die kleinſten Lebensverhältniſſe geläufig und ſtets gegenwärtig, ſie konnten nie in Verſuchung kommen, eine ſittliche Pflicht kla- geweis geltend zu machen oder ſich mit einer moraliſchen Ver- pflichtung abfinden zu laſſen, wo ſie eine juriſtiſche hatten be- gründen wollen. Zu der Anſicht, von der wir hier ausgegangen ſind, daß 43) C. A. Schmidt der prinzipielle Unterſchied zwiſchen dem römiſchen
und germaniſchen Rechte. S. 66, 67. Es iſt vielleicht ſelten ein verkehr- teres Urtheil über das römiſche Recht gefällt, und bedürfte es für mich einer Rechtfertigung meines ganzen Unternehmens, ich würde ſie ſchon darin finden <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p><pb facs="#f0071" n="57"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">I.</hi> Der Selbſtändigkeitstrieb. 2. Zu-Sich-Kommen des Rechts. §. 26.</fw><lb/> cher Form übernommen hatte. Und dieſe Form, in der ein ſo<lb/> leichtes Kriterium alles Rechtlichen lag, war in hohem Grade<lb/> ausgebildet, ſo daß das Rechtsgebiet wie durch ſein materielles<lb/> Prinzip, ſo auch durch ſeine formelle Aeußerlichkeit den unver-<lb/> kennbarſten Gegenſatz zu dem Reich der ſittlichen Pflichten bil-<lb/> dete. Wenn ein Römer eine Handlung vornahm z. B. ein Ver-<lb/> ſprechen ablegte, ſo war er ſich ſtets bewußt, auf welchem von<lb/> beiden Gebieten er ſich bewegte. Ein juriſtiſch und moraliſch<lb/> bindendes Verſprechen, wie weit lagen ſie in der Vorſtellung<lb/> der Römer auseinander, wie fließen ſie in unſerer heutigen Auf-<lb/> faſſung in einander über! Hat man doch für beide ein und das-<lb/> ſelbe Prinzip aufgeſtellt: ein gegebenes Verſprechen müſſe ge-<lb/> halten werden. Heutzutage iſt es möglich, daß Jemand etwas<lb/> verſpricht, ohne ſich darüber klar zu ſein, ob er ſich rechtlich oder<lb/> bloß moraliſch binden wolle, das Gebiet des Rechtlichen und<lb/> Moraliſchen iſt heutzutage nicht durch beſtimmte äußerlich er-<lb/> kennbare Gränzen geſchieden, die den Uebergang von dem einen<lb/> Gebiet zum andern nothwendigerweiſe ins Bewußtſein bringen.<lb/> Bei den Römern hingegen lagen dieſe Gebiete weit auseinan-<lb/> der, ihnen war der Gegenſatz zwiſchen Recht und Moral im<lb/> Ganzen ſowohl wie in ſeiner Erſtreckung und Anwendung auf<lb/> die kleinſten Lebensverhältniſſe geläufig und ſtets gegenwärtig,<lb/> ſie konnten nie in Verſuchung kommen, eine ſittliche Pflicht kla-<lb/> geweis geltend zu machen oder ſich mit einer moraliſchen Ver-<lb/> pflichtung abfinden zu laſſen, wo ſie eine juriſtiſche hatten be-<lb/> gründen wollen.</p><lb/> <p>Zu der Anſicht, von der wir hier ausgegangen ſind, daß<lb/> nämlich das Recht ſeinen Grund in ſich ſelbſt getragen habe,<lb/> ſteht eine neuerdings ausgeſprochene Behauptung<note xml:id="seg2pn_4_1" next="#seg2pn_4_2" place="foot" n="43)">C. A. Schmidt der prinzipielle Unterſchied zwiſchen dem römiſchen<lb/> und germaniſchen Rechte. S. 66, 67. Es iſt vielleicht ſelten ein verkehr-<lb/> teres Urtheil über das römiſche Recht gefällt, und bedürfte es für mich einer<lb/> Rechtfertigung meines ganzen Unternehmens, ich würde ſie ſchon darin finden</note> im ent-<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [57/0071]
I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 2. Zu-Sich-Kommen des Rechts. §. 26.
cher Form übernommen hatte. Und dieſe Form, in der ein ſo
leichtes Kriterium alles Rechtlichen lag, war in hohem Grade
ausgebildet, ſo daß das Rechtsgebiet wie durch ſein materielles
Prinzip, ſo auch durch ſeine formelle Aeußerlichkeit den unver-
kennbarſten Gegenſatz zu dem Reich der ſittlichen Pflichten bil-
dete. Wenn ein Römer eine Handlung vornahm z. B. ein Ver-
ſprechen ablegte, ſo war er ſich ſtets bewußt, auf welchem von
beiden Gebieten er ſich bewegte. Ein juriſtiſch und moraliſch
bindendes Verſprechen, wie weit lagen ſie in der Vorſtellung
der Römer auseinander, wie fließen ſie in unſerer heutigen Auf-
faſſung in einander über! Hat man doch für beide ein und das-
ſelbe Prinzip aufgeſtellt: ein gegebenes Verſprechen müſſe ge-
halten werden. Heutzutage iſt es möglich, daß Jemand etwas
verſpricht, ohne ſich darüber klar zu ſein, ob er ſich rechtlich oder
bloß moraliſch binden wolle, das Gebiet des Rechtlichen und
Moraliſchen iſt heutzutage nicht durch beſtimmte äußerlich er-
kennbare Gränzen geſchieden, die den Uebergang von dem einen
Gebiet zum andern nothwendigerweiſe ins Bewußtſein bringen.
Bei den Römern hingegen lagen dieſe Gebiete weit auseinan-
der, ihnen war der Gegenſatz zwiſchen Recht und Moral im
Ganzen ſowohl wie in ſeiner Erſtreckung und Anwendung auf
die kleinſten Lebensverhältniſſe geläufig und ſtets gegenwärtig,
ſie konnten nie in Verſuchung kommen, eine ſittliche Pflicht kla-
geweis geltend zu machen oder ſich mit einer moraliſchen Ver-
pflichtung abfinden zu laſſen, wo ſie eine juriſtiſche hatten be-
gründen wollen.
Zu der Anſicht, von der wir hier ausgegangen ſind, daß
nämlich das Recht ſeinen Grund in ſich ſelbſt getragen habe,
ſteht eine neuerdings ausgeſprochene Behauptung 43) im ent-
43) C. A. Schmidt der prinzipielle Unterſchied zwiſchen dem römiſchen
und germaniſchen Rechte. S. 66, 67. Es iſt vielleicht ſelten ein verkehr-
teres Urtheil über das römiſche Recht gefällt, und bedürfte es für mich einer
Rechtfertigung meines ganzen Unternehmens, ich würde ſie ſchon darin finden
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |