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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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Zweites Buch. Erster Abschnitt. II. Die Grundtriebe.
schiedensten Gegensatz, die Behauptung nämlich, "daß nach rö-
mischer Ansicht der Wille des Volks als einziger Grund des
Rechts gegolten habe, der Gedanke aber, daß es über dem
Willen des Volks noch eine diesen Willen beherrschende sittliche
Potenz gebe, den römischen Juristen völlig fremd gewesen sei."
Wenn zum Beweise dieser Behauptung darauf verwiesen wird,
daß die römischen Juristen das Recht als Produkt des Volks-
willens bezeichneten, daß sie die verbindende Kraft des Gewohn-
heitsrechts auf die stillschweigende Einwilligung des Volks stütz-
ten, daß es dieselben wenig interessirt habe, was das Volk ge-
trieben habe, sein Recht so oder so zu gestalten, so läßt sich darauf
einfach erwidern: ob denn jene Juristen, wenn sie den Begriff
des Gesetzes, Gewohnheitsrechts u. s. w. angeben wollten, sich
auf eine spekulative Untersuchung über die letzten Gründe des
Rechts hätten einlassen sollen, und ob denn nicht in der ganzen
Welt der juristische Grund der Gültigkeit des positiven Rechts
darin liegt, daß er Wille dieses Staats ist, diese Gültigkeit nicht
aber davon abhängt, ob das Gesetz den subjektiven Vorstellun-
gen des Richters von Sittlichkeit u. s. w. entspricht. Daß aber
die Römer, wenn sie auch den Willen des Volks als formalen
Grund der Gültigkeit der Gesetze bezeichneten und bezeichnen
mußten, dennoch nicht diesen Volkswillen d. h. die Willkühr
als Prinzip des Rechts ansahen, nicht der Ansicht waren, "daß
das Recht erst im Staate durch das Gesetz entstehe," läßt sich
bis zur Evidenz nachweisen. Zuerst erinnere ich an das Fas,
das in dem Willen der Götter seinen Grund hat und dem Prin-
zip nach der Volkssouveränetät eine unübersteigliche Schranke

können, daß heutzutage noch solche Urtheile möglich sind. Daß sie möglich
sind, ist insofern Schuld der Wissenschaft, als sie diese und ähnliche allgemei-
nere Fragen bisher gar nicht zu berühren pflegte, wenn ich gleich damit den
genannten Schriftsteller nicht von aller Schuld frei sprechen will, denn so
schwer fällt es in der That nicht, sich aus den Quellen über diese Frage zu
belehren, und bei einer solchen Fundamentalfrage hätte das römische Recht
dies wohl von ihm erwarten können.

Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
ſchiedenſten Gegenſatz, die Behauptung nämlich, „daß nach rö-
miſcher Anſicht der Wille des Volks als einziger Grund des
Rechts gegolten habe, der Gedanke aber, daß es über dem
Willen des Volks noch eine dieſen Willen beherrſchende ſittliche
Potenz gebe, den römiſchen Juriſten völlig fremd geweſen ſei.“
Wenn zum Beweiſe dieſer Behauptung darauf verwieſen wird,
daß die römiſchen Juriſten das Recht als Produkt des Volks-
willens bezeichneten, daß ſie die verbindende Kraft des Gewohn-
heitsrechts auf die ſtillſchweigende Einwilligung des Volks ſtütz-
ten, daß es dieſelben wenig intereſſirt habe, was das Volk ge-
trieben habe, ſein Recht ſo oder ſo zu geſtalten, ſo läßt ſich darauf
einfach erwidern: ob denn jene Juriſten, wenn ſie den Begriff
des Geſetzes, Gewohnheitsrechts u. ſ. w. angeben wollten, ſich
auf eine ſpekulative Unterſuchung über die letzten Gründe des
Rechts hätten einlaſſen ſollen, und ob denn nicht in der ganzen
Welt der juriſtiſche Grund der Gültigkeit des poſitiven Rechts
darin liegt, daß er Wille dieſes Staats iſt, dieſe Gültigkeit nicht
aber davon abhängt, ob das Geſetz den ſubjektiven Vorſtellun-
gen des Richters von Sittlichkeit u. ſ. w. entſpricht. Daß aber
die Römer, wenn ſie auch den Willen des Volks als formalen
Grund der Gültigkeit der Geſetze bezeichneten und bezeichnen
mußten, dennoch nicht dieſen Volkswillen d. h. die Willkühr
als Prinzip des Rechts anſahen, nicht der Anſicht waren, „daß
das Recht erſt im Staate durch das Geſetz entſtehe,“ läßt ſich
bis zur Evidenz nachweiſen. Zuerſt erinnere ich an das Fas,
das in dem Willen der Götter ſeinen Grund hat und dem Prin-
zip nach der Volksſouveränetät eine unüberſteigliche Schranke

können, daß heutzutage noch ſolche Urtheile möglich ſind. Daß ſie möglich
ſind, iſt inſofern Schuld der Wiſſenſchaft, als ſie dieſe und ähnliche allgemei-
nere Fragen bisher gar nicht zu berühren pflegte, wenn ich gleich damit den
genannten Schriftſteller nicht von aller Schuld frei ſprechen will, denn ſo
ſchwer fällt es in der That nicht, ſich aus den Quellen über dieſe Frage zu
belehren, und bei einer ſolchen Fundamentalfrage hätte das römiſche Recht
dies wohl von ihm erwarten können.
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[58/0072] Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe. ſchiedenſten Gegenſatz, die Behauptung nämlich, „daß nach rö- miſcher Anſicht der Wille des Volks als einziger Grund des Rechts gegolten habe, der Gedanke aber, daß es über dem Willen des Volks noch eine dieſen Willen beherrſchende ſittliche Potenz gebe, den römiſchen Juriſten völlig fremd geweſen ſei.“ Wenn zum Beweiſe dieſer Behauptung darauf verwieſen wird, daß die römiſchen Juriſten das Recht als Produkt des Volks- willens bezeichneten, daß ſie die verbindende Kraft des Gewohn- heitsrechts auf die ſtillſchweigende Einwilligung des Volks ſtütz- ten, daß es dieſelben wenig intereſſirt habe, was das Volk ge- trieben habe, ſein Recht ſo oder ſo zu geſtalten, ſo läßt ſich darauf einfach erwidern: ob denn jene Juriſten, wenn ſie den Begriff des Geſetzes, Gewohnheitsrechts u. ſ. w. angeben wollten, ſich auf eine ſpekulative Unterſuchung über die letzten Gründe des Rechts hätten einlaſſen ſollen, und ob denn nicht in der ganzen Welt der juriſtiſche Grund der Gültigkeit des poſitiven Rechts darin liegt, daß er Wille dieſes Staats iſt, dieſe Gültigkeit nicht aber davon abhängt, ob das Geſetz den ſubjektiven Vorſtellun- gen des Richters von Sittlichkeit u. ſ. w. entſpricht. Daß aber die Römer, wenn ſie auch den Willen des Volks als formalen Grund der Gültigkeit der Geſetze bezeichneten und bezeichnen mußten, dennoch nicht dieſen Volkswillen d. h. die Willkühr als Prinzip des Rechts anſahen, nicht der Anſicht waren, „daß das Recht erſt im Staate durch das Geſetz entſtehe,“ läßt ſich bis zur Evidenz nachweiſen. Zuerſt erinnere ich an das Fas, das in dem Willen der Götter ſeinen Grund hat und dem Prin- zip nach der Volksſouveränetät eine unüberſteigliche Schranke 43) 43) können, daß heutzutage noch ſolche Urtheile möglich ſind. Daß ſie möglich ſind, iſt inſofern Schuld der Wiſſenſchaft, als ſie dieſe und ähnliche allgemei- nere Fragen bisher gar nicht zu berühren pflegte, wenn ich gleich damit den genannten Schriftſteller nicht von aller Schuld frei ſprechen will, denn ſo ſchwer fällt es in der That nicht, ſich aus den Quellen über dieſe Frage zu belehren, und bei einer ſolchen Fundamentalfrage hätte das römiſche Recht dies wohl von ihm erwarten können.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/72>, abgerufen am 24.11.2024.