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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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Haften an der Aeußerlichkeit. I. Der Materialismus. §. 43.
darin, daß bei dem Tode des Besitzers die Usucapion sogar
ohne allen Besitz weiter läuft. 592) Daß die Anstellung
der Vindication von Seiten des Eigenthümers die Usucapion
nicht unterbrach, war dem materialistischen Charakter derselben
durchaus angemessen; bei der longi temporis possessio fand
nach der Ansicht, die mir die richtigere zu sein scheint, das
Gegentheil Statt, 593) und auch dadurch documentirt sie sich
als ein Institut neueren Ursprunges.

Käme es bloß darauf an, die materialistische Anschauungs-
weise des ältern Rechts an einzelnen Beispielen zu veranschau-
lichen, so würden wir die Zahl derselben hiermit schließen kön-
nen. Anders aber, wenn wir, wie es unsere Absicht ist, uns
über den Umfang und den Grad, in dem jene Ansicht sich im
Recht verwirklicht hat, Rechenschaft geben wollen; hier ist es
nöthig sich aller und jeder Spuren derselben, deren wir habhaft
werden können, zu bemächtigen. Während nun die bisher mit-

592) Das Aeußerste, wozu es nach dieser Seite hin kommen könnte,
wäre die völlige Beseitigung des Einflusses der Besitzunterbrechung d. h. die
Zusammenrechnung der Zeit vor und nach der Besitzesstörung. Damit würde
der letzte materialistische Rest der altrömischen Usucapionslehre beseitigt sein.
Der erste Ansatz dazu findet sich schon im römischen Recht selbst, nämlich in
der angegebenen Fortdauer der Usucapion während der her. jac. Einen
weiteren Schritt hat das Preuß. Landrecht I 9 §. 601, 602 gemacht, indem
es die Zusammenrechnung verstattet, wenn inzwischen kein Anderer den Besitz
gehabt hat, während das österreichische Recht es beim römischen gelassen.
Nur das französische hat sich hier, und wie ich glaube mit gutem Grunde und
nachahmenswerthem Beispiel, völlig von der traditionellen Behandlungs-
weise emancipirt, indem es dem Verlust des Besitzes, wenn er nicht über
Jahresfrist gedauert, oder wenn während der Zeit auf Restitution des Be-
sitzes geklagt ist (die spätere Verurtheilung vorausgesetzt), die Kraft der Unter-
brechung der Usucapion abgesprochen hat. K. S. Zachariä Handbuch des
franz. Civilrechts. Aufl. 5 von Anschütz Bd. 1 S. 531.
593) v. Wächter Erörterungen Hft 3 S. 101. Interessant ist es, wie
Constantin in L. 10 Cod. de poss. (7. 32) dies rechtfertigt, nämlich damit,
daß der Besitzer jetzt super jure possessionis vacillet et dubitet -- auch
hier schimmert wieder die obige Tendenz nach der subjectiven Innerlichkeit
durch.

Haften an der Aeußerlichkeit. I. Der Materialismus. §. 43.
darin, daß bei dem Tode des Beſitzers die Uſucapion ſogar
ohne allen Beſitz weiter läuft. 592) Daß die Anſtellung
der Vindication von Seiten des Eigenthümers die Uſucapion
nicht unterbrach, war dem materialiſtiſchen Charakter derſelben
durchaus angemeſſen; bei der longi temporis possessio fand
nach der Anſicht, die mir die richtigere zu ſein ſcheint, das
Gegentheil Statt, 593) und auch dadurch documentirt ſie ſich
als ein Inſtitut neueren Urſprunges.

Käme es bloß darauf an, die materialiſtiſche Anſchauungs-
weiſe des ältern Rechts an einzelnen Beiſpielen zu veranſchau-
lichen, ſo würden wir die Zahl derſelben hiermit ſchließen kön-
nen. Anders aber, wenn wir, wie es unſere Abſicht iſt, uns
über den Umfang und den Grad, in dem jene Anſicht ſich im
Recht verwirklicht hat, Rechenſchaft geben wollen; hier iſt es
nöthig ſich aller und jeder Spuren derſelben, deren wir habhaft
werden können, zu bemächtigen. Während nun die bisher mit-

592) Das Aeußerſte, wozu es nach dieſer Seite hin kommen könnte,
wäre die völlige Beſeitigung des Einfluſſes der Beſitzunterbrechung d. h. die
Zuſammenrechnung der Zeit vor und nach der Beſitzesſtörung. Damit würde
der letzte materialiſtiſche Reſt der altrömiſchen Uſucapionslehre beſeitigt ſein.
Der erſte Anſatz dazu findet ſich ſchon im römiſchen Recht ſelbſt, nämlich in
der angegebenen Fortdauer der Uſucapion während der her. jac. Einen
weiteren Schritt hat das Preuß. Landrecht I 9 §. 601, 602 gemacht, indem
es die Zuſammenrechnung verſtattet, wenn inzwiſchen kein Anderer den Beſitz
gehabt hat, während das öſterreichiſche Recht es beim römiſchen gelaſſen.
Nur das franzöſiſche hat ſich hier, und wie ich glaube mit gutem Grunde und
nachahmenswerthem Beiſpiel, völlig von der traditionellen Behandlungs-
weiſe emancipirt, indem es dem Verluſt des Beſitzes, wenn er nicht über
Jahresfriſt gedauert, oder wenn während der Zeit auf Reſtitution des Be-
ſitzes geklagt iſt (die ſpätere Verurtheilung vorausgeſetzt), die Kraft der Unter-
brechung der Uſucapion abgeſprochen hat. K. S. Zachariä Handbuch des
franz. Civilrechts. Aufl. 5 von Anſchütz Bd. 1 S. 531.
593) v. Wächter Erörterungen Hft 3 S. 101. Intereſſant iſt es, wie
Conſtantin in L. 10 Cod. de poss. (7. 32) dies rechtfertigt, nämlich damit,
daß der Beſitzer jetzt super jure possessionis vacillet et dubitet — auch
hier ſchimmert wieder die obige Tendenz nach der ſubjectiven Innerlichkeit
durch.
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[455/0161] Haften an der Aeußerlichkeit. I. Der Materialismus. §. 43. darin, daß bei dem Tode des Beſitzers die Uſucapion ſogar ohne allen Beſitz weiter läuft. 592) Daß die Anſtellung der Vindication von Seiten des Eigenthümers die Uſucapion nicht unterbrach, war dem materialiſtiſchen Charakter derſelben durchaus angemeſſen; bei der longi temporis possessio fand nach der Anſicht, die mir die richtigere zu ſein ſcheint, das Gegentheil Statt, 593) und auch dadurch documentirt ſie ſich als ein Inſtitut neueren Urſprunges. Käme es bloß darauf an, die materialiſtiſche Anſchauungs- weiſe des ältern Rechts an einzelnen Beiſpielen zu veranſchau- lichen, ſo würden wir die Zahl derſelben hiermit ſchließen kön- nen. Anders aber, wenn wir, wie es unſere Abſicht iſt, uns über den Umfang und den Grad, in dem jene Anſicht ſich im Recht verwirklicht hat, Rechenſchaft geben wollen; hier iſt es nöthig ſich aller und jeder Spuren derſelben, deren wir habhaft werden können, zu bemächtigen. Während nun die bisher mit- 592) Das Aeußerſte, wozu es nach dieſer Seite hin kommen könnte, wäre die völlige Beſeitigung des Einfluſſes der Beſitzunterbrechung d. h. die Zuſammenrechnung der Zeit vor und nach der Beſitzesſtörung. Damit würde der letzte materialiſtiſche Reſt der altrömiſchen Uſucapionslehre beſeitigt ſein. Der erſte Anſatz dazu findet ſich ſchon im römiſchen Recht ſelbſt, nämlich in der angegebenen Fortdauer der Uſucapion während der her. jac. Einen weiteren Schritt hat das Preuß. Landrecht I 9 §. 601, 602 gemacht, indem es die Zuſammenrechnung verſtattet, wenn inzwiſchen kein Anderer den Beſitz gehabt hat, während das öſterreichiſche Recht es beim römiſchen gelaſſen. Nur das franzöſiſche hat ſich hier, und wie ich glaube mit gutem Grunde und nachahmenswerthem Beiſpiel, völlig von der traditionellen Behandlungs- weiſe emancipirt, indem es dem Verluſt des Beſitzes, wenn er nicht über Jahresfriſt gedauert, oder wenn während der Zeit auf Reſtitution des Be- ſitzes geklagt iſt (die ſpätere Verurtheilung vorausgeſetzt), die Kraft der Unter- brechung der Uſucapion abgeſprochen hat. K. S. Zachariä Handbuch des franz. Civilrechts. Aufl. 5 von Anſchütz Bd. 1 S. 531. 593) v. Wächter Erörterungen Hft 3 S. 101. Intereſſant iſt es, wie Conſtantin in L. 10 Cod. de poss. (7. 32) dies rechtfertigt, nämlich damit, daß der Beſitzer jetzt super jure possessionis vacillet et dubitet — auch hier ſchimmert wieder die obige Tendenz nach der ſubjectiven Innerlichkeit durch.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 455. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/161>, abgerufen am 24.11.2024.