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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die jurist. Technik. B. Des ält. Rechts.
geben läßt, so würde sie freilich unbedingt den Vorzug verdie-
nen. Denn ganz abgesehen von der geringeren Anforderung,
die sie an den Interpreten stellt, so hat sie den Vorzug der Un-
mittelbarkeit des Resultats und damit den der größeren Sicher-
heit voraus. Bei ihr gilt es nicht erst ein Suchen und Operi-
ren, keine Schlußfolgerungen und künstliche Deductionen, wie
bei der logischen Interpretation, sondern sie hält sich gläubig
an das, was unmittelbar vorliegt, an die äußere Erscheinung.
Aber letztere -- und damit fällt jener scheinbare Vorzug der
Sicherheit zusammen -- ist oft höchst trügerisch, das Wort dem
Gedanken gegenüber zu weit oder zu eng; jene Sicherheit
kömmt also eben so wohl dem Irrthum, als der Wahrheit zu
gute. Die logische Interpretation hingegen beruht auf der
Skepsis, sie erkennt die äußere Erscheinung nicht als untrüg-
lich an und gelangt, indem sie dieselbe einer Kritik unterwirft,
möglicherweise zu einem völlig andern Resultat, als die Worte
erwarten lassen.

Aus eben dem Grunde aber ist sie historisch nicht die ur-
sprüngliche. So befremdend es von vornherein erscheinen mag,
daß gerade die Zeiten am strengsten am Wort haften, die des
Gebrauchs des Wortes am wenigsten mächtig, mithin am we-
nigsten befähigt sind, die Voraussetzung der grammatischen
Interpretation, daß die Worte einen getreuen Ausdruck des
Gedankens enthalten, zur Wahrheit zu machen, so sehr ent-
spricht doch dieser Wortcultus andererseits dem Charakter ihrer
ganzen Bildungsstufe. Der Glaube an die äußere Erscheinung
ist das Ursprüngliche, Natürliche, die Skepsis und die Los-
reißung von der Erscheinung das Spätere. Das Wort ist das
Greifbare, Unmittelbare, der Geist das Unsichtbare, Mittel-
bare, das Greifen aber ist, wie überall, so auch beim Wort
dem Begreifen vorausgegangen. Die Emancipation vom
Wort ist erst dann an der Zeit, wenn der Geist die erforderliche
Kraft gewonnen hat, um auch ohne dasselbe mit Sicherheit
operiren zu können. Zu dieser Höhe hatte sich aber, wie wir

Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
geben läßt, ſo würde ſie freilich unbedingt den Vorzug verdie-
nen. Denn ganz abgeſehen von der geringeren Anforderung,
die ſie an den Interpreten ſtellt, ſo hat ſie den Vorzug der Un-
mittelbarkeit des Reſultats und damit den der größeren Sicher-
heit voraus. Bei ihr gilt es nicht erſt ein Suchen und Operi-
ren, keine Schlußfolgerungen und künſtliche Deductionen, wie
bei der logiſchen Interpretation, ſondern ſie hält ſich gläubig
an das, was unmittelbar vorliegt, an die äußere Erſcheinung.
Aber letztere — und damit fällt jener ſcheinbare Vorzug der
Sicherheit zuſammen — iſt oft höchſt trügeriſch, das Wort dem
Gedanken gegenüber zu weit oder zu eng; jene Sicherheit
kömmt alſo eben ſo wohl dem Irrthum, als der Wahrheit zu
gute. Die logiſche Interpretation hingegen beruht auf der
Skepſis, ſie erkennt die äußere Erſcheinung nicht als untrüg-
lich an und gelangt, indem ſie dieſelbe einer Kritik unterwirft,
möglicherweiſe zu einem völlig andern Reſultat, als die Worte
erwarten laſſen.

Aus eben dem Grunde aber iſt ſie hiſtoriſch nicht die ur-
ſprüngliche. So befremdend es von vornherein erſcheinen mag,
daß gerade die Zeiten am ſtrengſten am Wort haften, die des
Gebrauchs des Wortes am wenigſten mächtig, mithin am we-
nigſten befähigt ſind, die Vorausſetzung der grammatiſchen
Interpretation, daß die Worte einen getreuen Ausdruck des
Gedankens enthalten, zur Wahrheit zu machen, ſo ſehr ent-
ſpricht doch dieſer Wortcultus andererſeits dem Charakter ihrer
ganzen Bildungsſtufe. Der Glaube an die äußere Erſcheinung
iſt das Urſprüngliche, Natürliche, die Skepſis und die Los-
reißung von der Erſcheinung das Spätere. Das Wort iſt das
Greifbare, Unmittelbare, der Geiſt das Unſichtbare, Mittel-
bare, das Greifen aber iſt, wie überall, ſo auch beim Wort
dem Begreifen vorausgegangen. Die Emancipation vom
Wort iſt erſt dann an der Zeit, wenn der Geiſt die erforderliche
Kraft gewonnen hat, um auch ohne daſſelbe mit Sicherheit
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[474/0180] Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts. geben läßt, ſo würde ſie freilich unbedingt den Vorzug verdie- nen. Denn ganz abgeſehen von der geringeren Anforderung, die ſie an den Interpreten ſtellt, ſo hat ſie den Vorzug der Un- mittelbarkeit des Reſultats und damit den der größeren Sicher- heit voraus. Bei ihr gilt es nicht erſt ein Suchen und Operi- ren, keine Schlußfolgerungen und künſtliche Deductionen, wie bei der logiſchen Interpretation, ſondern ſie hält ſich gläubig an das, was unmittelbar vorliegt, an die äußere Erſcheinung. Aber letztere — und damit fällt jener ſcheinbare Vorzug der Sicherheit zuſammen — iſt oft höchſt trügeriſch, das Wort dem Gedanken gegenüber zu weit oder zu eng; jene Sicherheit kömmt alſo eben ſo wohl dem Irrthum, als der Wahrheit zu gute. Die logiſche Interpretation hingegen beruht auf der Skepſis, ſie erkennt die äußere Erſcheinung nicht als untrüg- lich an und gelangt, indem ſie dieſelbe einer Kritik unterwirft, möglicherweiſe zu einem völlig andern Reſultat, als die Worte erwarten laſſen. Aus eben dem Grunde aber iſt ſie hiſtoriſch nicht die ur- ſprüngliche. So befremdend es von vornherein erſcheinen mag, daß gerade die Zeiten am ſtrengſten am Wort haften, die des Gebrauchs des Wortes am wenigſten mächtig, mithin am we- nigſten befähigt ſind, die Vorausſetzung der grammatiſchen Interpretation, daß die Worte einen getreuen Ausdruck des Gedankens enthalten, zur Wahrheit zu machen, ſo ſehr ent- ſpricht doch dieſer Wortcultus andererſeits dem Charakter ihrer ganzen Bildungsſtufe. Der Glaube an die äußere Erſcheinung iſt das Urſprüngliche, Natürliche, die Skepſis und die Los- reißung von der Erſcheinung das Spätere. Das Wort iſt das Greifbare, Unmittelbare, der Geiſt das Unſichtbare, Mittel- bare, das Greifen aber iſt, wie überall, ſo auch beim Wort dem Begreifen vorausgegangen. Die Emancipation vom Wort iſt erſt dann an der Zeit, wenn der Geiſt die erforderliche Kraft gewonnen hat, um auch ohne daſſelbe mit Sicherheit operiren zu können. Zu dieſer Höhe hatte ſich aber, wie wir

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 474. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/180>, abgerufen am 24.11.2024.