Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.Haften an der Aeußerlichkeit. II. Die Wortinterpretation. §. 44. die ganze Frage für entschieden hielte. Denn der Richter, derden Licinius verurtheilte, war das Volk, 644) und wenn man weiß, wie dasselbe bei Ausübung seiner Strafgerichtsbarkeit verfuhr (S. 43 fl.), wird man schwerlich den Schluß von ihm auf den gewöhnlichen Richter für stringent halten. Jedenfalls verdient gegenüber diesem einzigen Zeugniß auf der andern Seite in die Wagschale geworfen zu werden, daß unter den Scheingeschäften des ältern Rechts nicht wenige sich befanden, die geradezu eine Umgehung gesetzlicher Bestimmungen enthiel- ten, 645) so wie daß die Gesetzgebung selbst in Fällen, wo sie sich scheute, ein früheres Gesetz direct und ausdrücklich aufzuheben, sich des Mittels einer Umgehung desselben bediente. 646) In einer Zeit, die die Umgehung des Gesetzes mit unsern heutigen Augen oder denen der späteren römischen Juristen angesehen hätte, wäre beides wohl nicht möglich gewesen. Vielleicht ver- hält es sich nun mit dieser Frage, wie mit der Wortinterpreta- tion der Gesetze überhaupt d. h. die Jurisprudenz erkannte die Berechtigung der Umgehung des Gesetzes im Princip an, und fußte selbst darauf mit ihren Scheingeschäften, wußte aber nichts desto weniger im einzelnen Fall, wo die Verstattung des Umweges dem Rechtsgefühl oder höhern Interessen widerstrebte, irgend ein künstliches Mittel zu finden, um ihn abzusperren. 644) Die Uebertreter des Gesetzes wurden von den Aedilen vor dem Volk auf eine Geldstrafe belangt. So z. B. Liv. X, 13. 645) Cic. pro Murena c. 12. Nam quum permulta praeclare legi- bus essent constituta, ea jureconsultorum ingeniis pleraque corrupta ac depravata sunt. 646) Das Hauptbeispiel gewährt die lex Furia über die Höhe der Le-
gate, von der bereits S. 61 die Rede war. Haften an der Aeußerlichkeit. II. Die Wortinterpretation. §. 44. die ganze Frage für entſchieden hielte. Denn der Richter, derden Licinius verurtheilte, war das Volk, 644) und wenn man weiß, wie daſſelbe bei Ausübung ſeiner Strafgerichtsbarkeit verfuhr (S. 43 fl.), wird man ſchwerlich den Schluß von ihm auf den gewöhnlichen Richter für ſtringent halten. Jedenfalls verdient gegenüber dieſem einzigen Zeugniß auf der andern Seite in die Wagſchale geworfen zu werden, daß unter den Scheingeſchäften des ältern Rechts nicht wenige ſich befanden, die geradezu eine Umgehung geſetzlicher Beſtimmungen enthiel- ten, 645) ſo wie daß die Geſetzgebung ſelbſt in Fällen, wo ſie ſich ſcheute, ein früheres Geſetz direct und ausdrücklich aufzuheben, ſich des Mittels einer Umgehung deſſelben bediente. 646) In einer Zeit, die die Umgehung des Geſetzes mit unſern heutigen Augen oder denen der ſpäteren römiſchen Juriſten angeſehen hätte, wäre beides wohl nicht möglich geweſen. Vielleicht ver- hält es ſich nun mit dieſer Frage, wie mit der Wortinterpreta- tion der Geſetze überhaupt d. h. die Jurisprudenz erkannte die Berechtigung der Umgehung des Geſetzes im Princip an, und fußte ſelbſt darauf mit ihren Scheingeſchäften, wußte aber nichts deſto weniger im einzelnen Fall, wo die Verſtattung des Umweges dem Rechtsgefühl oder höhern Intereſſen widerſtrebte, irgend ein künſtliches Mittel zu finden, um ihn abzuſperren. 644) Die Uebertreter des Geſetzes wurden von den Aedilen vor dem Volk auf eine Geldſtrafe belangt. So z. B. Liv. X, 13. 645) Cic. pro Murena c. 12. Nam quum permulta praeclare legi- bus essent constituta, ea jureconsultorum ingeniis pleraque corrupta ac depravata sunt. 646) Das Hauptbeiſpiel gewährt die lex Furia über die Höhe der Le-
gate, von der bereits S. 61 die Rede war. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <p><pb facs="#f0201" n="495"/><fw place="top" type="header">Haften an der Aeußerlichkeit. <hi rendition="#aq">II.</hi> Die Wortinterpretation. §. 44.</fw><lb/> die ganze Frage für entſchieden hielte. Denn der Richter, der<lb/> den Licinius verurtheilte, war das <hi rendition="#g">Volk</hi>, <note place="foot" n="644)">Die Uebertreter des Geſetzes wurden von den Aedilen vor dem<lb/><hi rendition="#g">Volk</hi> auf eine Geldſtrafe belangt. So z. B. <hi rendition="#aq">Liv. X,</hi> 13.</note> und wenn man<lb/> weiß, wie daſſelbe bei Ausübung ſeiner Strafgerichtsbarkeit<lb/> verfuhr (S. 43 fl.), wird man ſchwerlich den Schluß von ihm<lb/> auf den gewöhnlichen Richter für ſtringent halten. Jedenfalls<lb/> verdient gegenüber dieſem einzigen Zeugniß auf der andern<lb/> Seite in die Wagſchale geworfen zu werden, daß unter den<lb/> Scheingeſchäften des ältern Rechts nicht wenige ſich befanden,<lb/> die geradezu eine Umgehung geſetzlicher Beſtimmungen enthiel-<lb/> ten, <note place="foot" n="645)"><hi rendition="#aq">Cic. pro Murena c. 12. Nam quum permulta praeclare legi-<lb/> bus essent constituta, ea jureconsultorum ingeniis pleraque corrupta<lb/> ac depravata sunt.</hi></note> ſo wie daß die Geſetzgebung ſelbſt in Fällen, wo ſie ſich<lb/> ſcheute, ein früheres Geſetz direct und ausdrücklich aufzuheben,<lb/> ſich des Mittels einer Umgehung deſſelben bediente. <note place="foot" n="646)">Das Hauptbeiſpiel gewährt die <hi rendition="#aq">lex Furia</hi> über die Höhe der Le-<lb/> gate, von der bereits S. 61 die Rede war.</note> In<lb/> einer Zeit, die die Umgehung des Geſetzes mit unſern heutigen<lb/> Augen oder denen der ſpäteren römiſchen Juriſten angeſehen<lb/> hätte, wäre beides wohl nicht möglich geweſen. Vielleicht ver-<lb/> hält es ſich nun mit dieſer Frage, wie mit der Wortinterpreta-<lb/> tion der Geſetze überhaupt d. h. die Jurisprudenz erkannte die<lb/> Berechtigung der Umgehung des Geſetzes im Princip an, und<lb/> fußte ſelbſt darauf mit ihren Scheingeſchäften, wußte aber<lb/> nichts deſto weniger im einzelnen Fall, wo die Verſtattung des<lb/> Umweges dem Rechtsgefühl oder höhern Intereſſen widerſtrebte,<lb/> irgend ein künſtliches Mittel zu finden, um ihn abzuſperren.</p><lb/> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [495/0201]
Haften an der Aeußerlichkeit. II. Die Wortinterpretation. §. 44.
die ganze Frage für entſchieden hielte. Denn der Richter, der
den Licinius verurtheilte, war das Volk, 644) und wenn man
weiß, wie daſſelbe bei Ausübung ſeiner Strafgerichtsbarkeit
verfuhr (S. 43 fl.), wird man ſchwerlich den Schluß von ihm
auf den gewöhnlichen Richter für ſtringent halten. Jedenfalls
verdient gegenüber dieſem einzigen Zeugniß auf der andern
Seite in die Wagſchale geworfen zu werden, daß unter den
Scheingeſchäften des ältern Rechts nicht wenige ſich befanden,
die geradezu eine Umgehung geſetzlicher Beſtimmungen enthiel-
ten, 645) ſo wie daß die Geſetzgebung ſelbſt in Fällen, wo ſie ſich
ſcheute, ein früheres Geſetz direct und ausdrücklich aufzuheben,
ſich des Mittels einer Umgehung deſſelben bediente. 646) In
einer Zeit, die die Umgehung des Geſetzes mit unſern heutigen
Augen oder denen der ſpäteren römiſchen Juriſten angeſehen
hätte, wäre beides wohl nicht möglich geweſen. Vielleicht ver-
hält es ſich nun mit dieſer Frage, wie mit der Wortinterpreta-
tion der Geſetze überhaupt d. h. die Jurisprudenz erkannte die
Berechtigung der Umgehung des Geſetzes im Princip an, und
fußte ſelbſt darauf mit ihren Scheingeſchäften, wußte aber
nichts deſto weniger im einzelnen Fall, wo die Verſtattung des
Umweges dem Rechtsgefühl oder höhern Intereſſen widerſtrebte,
irgend ein künſtliches Mittel zu finden, um ihn abzuſperren.
644) Die Uebertreter des Geſetzes wurden von den Aedilen vor dem
Volk auf eine Geldſtrafe belangt. So z. B. Liv. X, 13.
645) Cic. pro Murena c. 12. Nam quum permulta praeclare legi-
bus essent constituta, ea jureconsultorum ingeniis pleraque corrupta
ac depravata sunt.
646) Das Hauptbeiſpiel gewährt die lex Furia über die Höhe der Le-
gate, von der bereits S. 61 die Rede war.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |