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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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I. Gegensatz der natürl. u. jurist. Anschauungsweise. §. 37.
vor; -- der Laie tritt nicht zurück, weil der Jurist ihn ver-
drängt, sondern der Jurist tritt auf, weil der Laie ihn nicht mehr
entbehren kann. Man hat diesen Entwicklungsprozeß und die
damit verbundene Entfremdung des Rechts vom Laienbewußt-
sein als eine beklagenswerthe Thatsache angesehen, und die Ge-
schichte der Wissenschaft wie der Gesetzgebung berichtet von man-
chen Versuchen, die Kluft zwischen Juristen und Laien auszu-
füllen oder letzterem wenigstens eine bequeme Brücke in die Ju-
risprudenz zu schlagen. Ein eitles Bemühen, eine ohnmächtige
Auflehnung gegen die Geschichte! Denn jene Thatsache, die
man ungeschehen machen möchte, ist nichts Anderes, als die
Verwirklichung eines allgemeinen Culturgesetzes auf dem Ge-
biete des Rechts -- des Gesetzes der Theilung der Arbeit -- und
so machtlos und widersinnig ein Widerstand gegen dies Gesetz
anderwärts sein würde, ebenso wird er es auch hier sein.

Der Grund, der dem Laien bei einem ausgebildeten Recht die
Kenntniß und Anwendung desselben unmöglich macht, liegtweniger
in dem, worin der Laie geneigt sein wird, ihn zu finden, in der
Massenhaftigkeit als vielmehr in der Art des Stoffs, in
der eigenthümlichen Schwierigkeit seiner Auffassung und Handha-
bung. Das Recht, das dem Laien nur als eine Masse von Gesetzen
erscheint, ist in der That etwas ganz Anderes, unendlich Höheres
(S. B. 1. S. 25--33). Gesetze kann der Laie so gut auswendig
lernen, als der Jurist, und wenn sie gerade Verhältnisse betreffen,
die ihm geläufig sind, mag er sie auch zur Noth anwenden kön-
nen. Aber um das Recht zu verstehen und anzuwenden, dazu
reicht der einfache Verstand und der natürliche Sinn nicht aus,
dazu bedarf es vielmehr zweierlei, nämlich erstens eines nur
durch vieljährige Anstrengung und Uebung zu gewinnenden ei-
genthümlichen Auffassungsvermögens, einer besonderen
Fertigkeit des abstracten Denkens, und zweitens einer besonde-
ren Geschicklichkeit im Operiren mit Rechtsbegriffen -- namentlich
der juristischen Diagnose. Beides zusammen begreifen wir
unter dem Ausdruck der juristischen Bildung. Sie ist es,

I. Gegenſatz der natürl. u. juriſt. Anſchauungsweiſe. §. 37.
vor; — der Laie tritt nicht zurück, weil der Juriſt ihn ver-
drängt, ſondern der Juriſt tritt auf, weil der Laie ihn nicht mehr
entbehren kann. Man hat dieſen Entwicklungsprozeß und die
damit verbundene Entfremdung des Rechts vom Laienbewußt-
ſein als eine beklagenswerthe Thatſache angeſehen, und die Ge-
ſchichte der Wiſſenſchaft wie der Geſetzgebung berichtet von man-
chen Verſuchen, die Kluft zwiſchen Juriſten und Laien auszu-
füllen oder letzterem wenigſtens eine bequeme Brücke in die Ju-
risprudenz zu ſchlagen. Ein eitles Bemühen, eine ohnmächtige
Auflehnung gegen die Geſchichte! Denn jene Thatſache, die
man ungeſchehen machen möchte, iſt nichts Anderes, als die
Verwirklichung eines allgemeinen Culturgeſetzes auf dem Ge-
biete des Rechts — des Geſetzes der Theilung der Arbeit — und
ſo machtlos und widerſinnig ein Widerſtand gegen dies Geſetz
anderwärts ſein würde, ebenſo wird er es auch hier ſein.

Der Grund, der dem Laien bei einem ausgebildeten Recht die
Kenntniß und Anwendung deſſelben unmöglich macht, liegtweniger
in dem, worin der Laie geneigt ſein wird, ihn zu finden, in der
Maſſenhaftigkeit als vielmehr in der Art des Stoffs, in
der eigenthümlichen Schwierigkeit ſeiner Auffaſſung und Handha-
bung. Das Recht, das dem Laien nur als eine Maſſe von Geſetzen
erſcheint, iſt in der That etwas ganz Anderes, unendlich Höheres
(S. B. 1. S. 25—33). Geſetze kann der Laie ſo gut auswendig
lernen, als der Juriſt, und wenn ſie gerade Verhältniſſe betreffen,
die ihm geläufig ſind, mag er ſie auch zur Noth anwenden kön-
nen. Aber um das Recht zu verſtehen und anzuwenden, dazu
reicht der einfache Verſtand und der natürliche Sinn nicht aus,
dazu bedarf es vielmehr zweierlei, nämlich erſtens eines nur
durch vieljährige Anſtrengung und Uebung zu gewinnenden ei-
genthümlichen Auffaſſungsvermögens, einer beſonderen
Fertigkeit des abſtracten Denkens, und zweitens einer beſonde-
ren Geſchicklichkeit im Operiren mit Rechtsbegriffen — namentlich
der juriſtiſchen Diagnoſe. Beides zuſammen begreifen wir
unter dem Ausdruck der juriſtiſchen Bildung. Sie iſt es,

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[325/0031] I. Gegenſatz der natürl. u. juriſt. Anſchauungsweiſe. §. 37. vor; — der Laie tritt nicht zurück, weil der Juriſt ihn ver- drängt, ſondern der Juriſt tritt auf, weil der Laie ihn nicht mehr entbehren kann. Man hat dieſen Entwicklungsprozeß und die damit verbundene Entfremdung des Rechts vom Laienbewußt- ſein als eine beklagenswerthe Thatſache angeſehen, und die Ge- ſchichte der Wiſſenſchaft wie der Geſetzgebung berichtet von man- chen Verſuchen, die Kluft zwiſchen Juriſten und Laien auszu- füllen oder letzterem wenigſtens eine bequeme Brücke in die Ju- risprudenz zu ſchlagen. Ein eitles Bemühen, eine ohnmächtige Auflehnung gegen die Geſchichte! Denn jene Thatſache, die man ungeſchehen machen möchte, iſt nichts Anderes, als die Verwirklichung eines allgemeinen Culturgeſetzes auf dem Ge- biete des Rechts — des Geſetzes der Theilung der Arbeit — und ſo machtlos und widerſinnig ein Widerſtand gegen dies Geſetz anderwärts ſein würde, ebenſo wird er es auch hier ſein. Der Grund, der dem Laien bei einem ausgebildeten Recht die Kenntniß und Anwendung deſſelben unmöglich macht, liegtweniger in dem, worin der Laie geneigt ſein wird, ihn zu finden, in der Maſſenhaftigkeit als vielmehr in der Art des Stoffs, in der eigenthümlichen Schwierigkeit ſeiner Auffaſſung und Handha- bung. Das Recht, das dem Laien nur als eine Maſſe von Geſetzen erſcheint, iſt in der That etwas ganz Anderes, unendlich Höheres (S. B. 1. S. 25—33). Geſetze kann der Laie ſo gut auswendig lernen, als der Juriſt, und wenn ſie gerade Verhältniſſe betreffen, die ihm geläufig ſind, mag er ſie auch zur Noth anwenden kön- nen. Aber um das Recht zu verſtehen und anzuwenden, dazu reicht der einfache Verſtand und der natürliche Sinn nicht aus, dazu bedarf es vielmehr zweierlei, nämlich erſtens eines nur durch vieljährige Anſtrengung und Uebung zu gewinnenden ei- genthümlichen Auffaſſungsvermögens, einer beſonderen Fertigkeit des abſtracten Denkens, und zweitens einer beſonde- ren Geſchicklichkeit im Operiren mit Rechtsbegriffen — namentlich der juriſtiſchen Diagnoſe. Beides zuſammen begreifen wir unter dem Ausdruck der juriſtiſchen Bildung. Sie iſt es,

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 325. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/31>, abgerufen am 27.04.2024.