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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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I. Gegensatz der natürl. u. jurist. Anschauungsweise. §. 37.
Recht gehört, sein würde. Die englische Jurisprudenz athmet
bei all' ihrer Unbekanntschaft mit der römischen fast denselben
Geist, wie die altrömische. Dieselbe Handhabung der Form,
dieselbe Pedanterie, dieselben Umwege und Scheingeschäfte;
selbst die Fictionen fehlen nicht. Für diese freilich etwas schwer-
fällige und baroke Art der juristischen Technik [den juristischen
Rococostyl] fehlt dem Laien das Verständniß in dem Maße,
daß sie ihm kaum etwas Anderes, als ein Lächeln abnöthigen
wird. Aber auch ganz abgesehen von diesen, einer niederen Ent-
wicklungsstufe angehörigen Formen der juristischen Technik wird
letztere selbst in ihrer vollendetsten Gestalt, in der Reinheit des
classischen Styls, dem Laien vielfach ein Räthsel und ein Stein
des Anstoßes sein. Daß der Jurist da, wo er, der Laie, nur
einen Akt bemerkt, deren zwei annimmt, 473) oder da, wo Je-
ner überall keinen Akt wahrnimmt, einen oder gar mehre sta-
tuirt 474) und umgekehrt da, wo ein äußerer Akt in der That
vorliegt, denselben nicht sieht, oder ihn in ganz anderer Weise
auffaßt, als er äußerlich erscheint; 475) daß er Geschäfte, die
äußerlich sich durchaus gleichsehen, ganz verschieden behan-
delt: 476) -- alles dieses wird dem Laien unnatürlich erscheinen.

473) z. B. wenn der Schuldner im Auftrage des Gläubigers an eine
dritte Person zahlt, einmal eine Zahlung des Schuldners an den Gläubi-
ger und sodann ein Rechtsgeschäft zwischen Gläubiger und der dritten Per-
son (sei es gleichfalls eine solutio, oder eine Schenkung, oder ein Darlehn,
oder ein anderes Geschäft); L. 44 de solut. (46. 3). Auf solche Fälle be-
zieht sich die Bemerkung des Juristen in L. 3 §. 12 de don. i. v. et u.
(24. 1): celeritate inter se conjungendarum actionum unam occultari.
474) z. B. wenn der Pächter die Sache vom Verpächter kauft, eine Tra-
dition von jenem an diesen und von diesem zurück an jenen (traditio brevi
manu;
der entgegengesetzte Hergang beim constitutum possessorium).
475) z. B. die Ratihabition eines früheren ungültigen Geschäfts als Ab-
schluß eines neuen L. 1 §. 2 pro donato (41. 6) quasi nunc donasse
videtur.
476) z. B. die Aneignung einer vom Eigenthümer preisgegebenen Sache

I. Gegenſatz der natürl. u. juriſt. Anſchauungsweiſe. §. 37.
Recht gehört, ſein würde. Die engliſche Jurisprudenz athmet
bei all’ ihrer Unbekanntſchaft mit der römiſchen faſt denſelben
Geiſt, wie die altrömiſche. Dieſelbe Handhabung der Form,
dieſelbe Pedanterie, dieſelben Umwege und Scheingeſchäfte;
ſelbſt die Fictionen fehlen nicht. Für dieſe freilich etwas ſchwer-
fällige und baroke Art der juriſtiſchen Technik [den juriſtiſchen
Rococoſtyl] fehlt dem Laien das Verſtändniß in dem Maße,
daß ſie ihm kaum etwas Anderes, als ein Lächeln abnöthigen
wird. Aber auch ganz abgeſehen von dieſen, einer niederen Ent-
wicklungsſtufe angehörigen Formen der juriſtiſchen Technik wird
letztere ſelbſt in ihrer vollendetſten Geſtalt, in der Reinheit des
claſſiſchen Styls, dem Laien vielfach ein Räthſel und ein Stein
des Anſtoßes ſein. Daß der Juriſt da, wo er, der Laie, nur
einen Akt bemerkt, deren zwei annimmt, 473) oder da, wo Je-
ner überall keinen Akt wahrnimmt, einen oder gar mehre ſta-
tuirt 474) und umgekehrt da, wo ein äußerer Akt in der That
vorliegt, denſelben nicht ſieht, oder ihn in ganz anderer Weiſe
auffaßt, als er äußerlich erſcheint; 475) daß er Geſchäfte, die
äußerlich ſich durchaus gleichſehen, ganz verſchieden behan-
delt: 476) — alles dieſes wird dem Laien unnatürlich erſcheinen.

473) z. B. wenn der Schuldner im Auftrage des Gläubigers an eine
dritte Perſon zahlt, einmal eine Zahlung des Schuldners an den Gläubi-
ger und ſodann ein Rechtsgeſchäft zwiſchen Gläubiger und der dritten Per-
ſon (ſei es gleichfalls eine solutio, oder eine Schenkung, oder ein Darlehn,
oder ein anderes Geſchäft); L. 44 de solut. (46. 3). Auf ſolche Fälle be-
zieht ſich die Bemerkung des Juriſten in L. 3 §. 12 de don. i. v. et u.
(24. 1): celeritate inter se conjungendarum actionum unam occultari.
474) z. B. wenn der Pächter die Sache vom Verpächter kauft, eine Tra-
dition von jenem an dieſen und von dieſem zurück an jenen (traditio brevi
manu;
der entgegengeſetzte Hergang beim constitutum possessorium).
475) z. B. die Ratihabition eines früheren ungültigen Geſchäfts als Ab-
ſchluß eines neuen L. 1 §. 2 pro donato (41. 6) quasi nunc donasse
videtur.
476) z. B. die Aneignung einer vom Eigenthümer preisgegebenen Sache
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[327/0033] I. Gegenſatz der natürl. u. juriſt. Anſchauungsweiſe. §. 37. Recht gehört, ſein würde. Die engliſche Jurisprudenz athmet bei all’ ihrer Unbekanntſchaft mit der römiſchen faſt denſelben Geiſt, wie die altrömiſche. Dieſelbe Handhabung der Form, dieſelbe Pedanterie, dieſelben Umwege und Scheingeſchäfte; ſelbſt die Fictionen fehlen nicht. Für dieſe freilich etwas ſchwer- fällige und baroke Art der juriſtiſchen Technik [den juriſtiſchen Rococoſtyl] fehlt dem Laien das Verſtändniß in dem Maße, daß ſie ihm kaum etwas Anderes, als ein Lächeln abnöthigen wird. Aber auch ganz abgeſehen von dieſen, einer niederen Ent- wicklungsſtufe angehörigen Formen der juriſtiſchen Technik wird letztere ſelbſt in ihrer vollendetſten Geſtalt, in der Reinheit des claſſiſchen Styls, dem Laien vielfach ein Räthſel und ein Stein des Anſtoßes ſein. Daß der Juriſt da, wo er, der Laie, nur einen Akt bemerkt, deren zwei annimmt, 473) oder da, wo Je- ner überall keinen Akt wahrnimmt, einen oder gar mehre ſta- tuirt 474) und umgekehrt da, wo ein äußerer Akt in der That vorliegt, denſelben nicht ſieht, oder ihn in ganz anderer Weiſe auffaßt, als er äußerlich erſcheint; 475) daß er Geſchäfte, die äußerlich ſich durchaus gleichſehen, ganz verſchieden behan- delt: 476) — alles dieſes wird dem Laien unnatürlich erſcheinen. 473) z. B. wenn der Schuldner im Auftrage des Gläubigers an eine dritte Perſon zahlt, einmal eine Zahlung des Schuldners an den Gläubi- ger und ſodann ein Rechtsgeſchäft zwiſchen Gläubiger und der dritten Per- ſon (ſei es gleichfalls eine solutio, oder eine Schenkung, oder ein Darlehn, oder ein anderes Geſchäft); L. 44 de solut. (46. 3). Auf ſolche Fälle be- zieht ſich die Bemerkung des Juriſten in L. 3 §. 12 de don. i. v. et u. (24. 1): celeritate inter se conjungendarum actionum unam occultari. 474) z. B. wenn der Pächter die Sache vom Verpächter kauft, eine Tra- dition von jenem an dieſen und von dieſem zurück an jenen (traditio brevi manu; der entgegengeſetzte Hergang beim constitutum possessorium). 475) z. B. die Ratihabition eines früheren ungültigen Geſchäfts als Ab- ſchluß eines neuen L. 1 §. 2 pro donato (41. 6) quasi nunc donasse videtur. 476) z. B. die Aneignung einer vom Eigenthümer preisgegebenen Sache

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 327. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/33>, abgerufen am 21.11.2024.