Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die jurist. Technik. A. Im allgem.
tikabilität aus aber ein durchaus motivirter, ja unvermeidli-
cher war.

Ich könnte die Zahl dieser Beispiele noch um viele vermeh-
ren, 486) allein ich fürchte schon so den Vorwurf, daß ich mit ih-
nen etwas zu freigebig gewesen bin. Der Grund davon lag
in dem Wunsch, den Einfluß, den die Rücksicht auf Praktikabi-
lität auf die materielle Gestaltung des Rechts ausübt, die
materiell-productive Kraft unseres Gesichtspunktes mög-
lichst zu veranschaulichen und einzuprägen. Wer den Gesichts-
punkt der Praktikabilität nicht stets im Auge hält, wird manche
Rechtssätze gar nicht verstehen und läuft namentlich Gefahr dem
positiven Recht gerade da Vorwürfe zu machen, wo dasselbe sie
am wenigsten verdient.

Das technische Problem, um das es sich bei dieser Praktika-
bilität des Rechts handelt, unterscheidet sich in mannigfacher
Beziehung von dem, welches wir unter I haben kennen lernen,
vor Allem aber darin, daß die Macht der Wissenschaft hier eine
geringere und eine Mitwirkung der positiven rechtssetzenden Ge-
walten (Gesetz, Gewohnheitsrecht, Autonomie des Verkehrs) 487)
hier in ungleich höherm Maße geboten ist, als dort. Es hat
dies darin seinen Grund, daß die Lösung dieser Aufgabe nicht
rein und ausschließlich durch eine formale Vervollkommnung
des Stoffs möglich ist, sondern eine gewisse materielle Zu-
richtung desselben verlangt. Kann nun auch die Wissenschaft,

486) Ich will einige wenigstens andeuten. 1. Beweis der Testaments-
errichtung erforderte Beweis der familiae mancipatio und nuncupatio; Er-
leichterung: Production eines Testaments mit 7 Siegeln, Bon. poss. sec.
tabulas Gaj. II,
119. 2. Beweis der erbschaftlichen Gläubiger gegen den Er-
ben: Antretung der Erbschaft; Erleichterung: pro herede gestio. 3. Die
Publiciana actio als Erleichterung des Eigenthumsbeweises; 4. Beweis des
mündlichen Abschlusses der Stipulation; Erleichterung: Production der un-
terschriebenen Stipulationsurkunde.
487) Als Beispiel für die Betheiligung des Verkehrs an dieser Aufgabe
diene namentlich der Gebrauch der Conventionalpön im römischen Leben.
S. darüber S. 113.

Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
tikabilität aus aber ein durchaus motivirter, ja unvermeidli-
cher war.

Ich könnte die Zahl dieſer Beiſpiele noch um viele vermeh-
ren, 486) allein ich fürchte ſchon ſo den Vorwurf, daß ich mit ih-
nen etwas zu freigebig geweſen bin. Der Grund davon lag
in dem Wunſch, den Einfluß, den die Rückſicht auf Praktikabi-
lität auf die materielle Geſtaltung des Rechts ausübt, die
materiell-productive Kraft unſeres Geſichtspunktes mög-
lichſt zu veranſchaulichen und einzuprägen. Wer den Geſichts-
punkt der Praktikabilität nicht ſtets im Auge hält, wird manche
Rechtsſätze gar nicht verſtehen und läuft namentlich Gefahr dem
poſitiven Recht gerade da Vorwürfe zu machen, wo daſſelbe ſie
am wenigſten verdient.

Das techniſche Problem, um das es ſich bei dieſer Praktika-
bilität des Rechts handelt, unterſcheidet ſich in mannigfacher
Beziehung von dem, welches wir unter I haben kennen lernen,
vor Allem aber darin, daß die Macht der Wiſſenſchaft hier eine
geringere und eine Mitwirkung der poſitiven rechtsſetzenden Ge-
walten (Geſetz, Gewohnheitsrecht, Autonomie des Verkehrs) 487)
hier in ungleich höherm Maße geboten iſt, als dort. Es hat
dies darin ſeinen Grund, daß die Löſung dieſer Aufgabe nicht
rein und ausſchließlich durch eine formale Vervollkommnung
des Stoffs möglich iſt, ſondern eine gewiſſe materielle Zu-
richtung deſſelben verlangt. Kann nun auch die Wiſſenſchaft,

486) Ich will einige wenigſtens andeuten. 1. Beweis der Teſtaments-
errichtung erforderte Beweis der familiae mancipatio und nuncupatio; Er-
leichterung: Production eines Teſtaments mit 7 Siegeln, Bon. poss. sec.
tabulas Gaj. II,
119. 2. Beweis der erbſchaftlichen Gläubiger gegen den Er-
ben: Antretung der Erbſchaft; Erleichterung: pro herede gestio. 3. Die
Publiciana actio als Erleichterung des Eigenthumsbeweiſes; 4. Beweis des
mündlichen Abſchluſſes der Stipulation; Erleichterung: Production der un-
terſchriebenen Stipulationsurkunde.
487) Als Beiſpiel für die Betheiligung des Verkehrs an dieſer Aufgabe
diene namentlich der Gebrauch der Conventionalpön im römiſchen Leben.
S. darüber S. 113.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <p><pb facs="#f0058" n="352"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Er&#x017F;ter Ab&#x017F;chn. <hi rendition="#aq">III.</hi> Die juri&#x017F;t. Technik. <hi rendition="#aq">A.</hi> Im allgem.</fw><lb/>
tikabilität aus aber ein durchaus motivirter, ja unvermeidli-<lb/>
cher war.</p><lb/>
                    <p>Ich könnte die Zahl die&#x017F;er Bei&#x017F;piele noch um viele vermeh-<lb/>
ren, <note place="foot" n="486)">Ich will einige wenig&#x017F;tens andeuten. 1. Beweis der Te&#x017F;taments-<lb/>
errichtung erforderte Beweis der <hi rendition="#aq">familiae mancipatio</hi> und <hi rendition="#aq">nuncupatio;</hi> Er-<lb/>
leichterung: Production eines Te&#x017F;taments mit 7 Siegeln, <hi rendition="#aq">Bon. poss. sec.<lb/>
tabulas Gaj. II,</hi> 119. 2. Beweis der erb&#x017F;chaftlichen Gläubiger gegen den Er-<lb/>
ben: Antretung der Erb&#x017F;chaft; Erleichterung: <hi rendition="#aq">pro herede gestio.</hi> 3. Die<lb/><hi rendition="#aq">Publiciana actio</hi> als Erleichterung des Eigenthumsbewei&#x017F;es; 4. Beweis des<lb/>
mündlichen Ab&#x017F;chlu&#x017F;&#x017F;es der Stipulation; Erleichterung: Production der un-<lb/>
ter&#x017F;chriebenen Stipulationsurkunde.</note> allein ich fürchte &#x017F;chon &#x017F;o den Vorwurf, daß ich mit ih-<lb/>
nen etwas zu freigebig gewe&#x017F;en bin. Der Grund davon lag<lb/>
in dem Wun&#x017F;ch, den Einfluß, den die Rück&#x017F;icht auf Praktikabi-<lb/>
lität auf die <hi rendition="#g">materielle</hi> Ge&#x017F;taltung des Rechts ausübt, die<lb/><hi rendition="#g">materiell-productive</hi> Kraft un&#x017F;eres Ge&#x017F;ichtspunktes mög-<lb/>
lich&#x017F;t zu veran&#x017F;chaulichen und einzuprägen. Wer den Ge&#x017F;ichts-<lb/>
punkt der Praktikabilität nicht &#x017F;tets im Auge hält, wird manche<lb/>
Rechts&#x017F;ätze gar nicht ver&#x017F;tehen und läuft namentlich Gefahr dem<lb/>
po&#x017F;itiven Recht gerade da Vorwürfe zu machen, wo da&#x017F;&#x017F;elbe &#x017F;ie<lb/>
am wenig&#x017F;ten verdient.</p><lb/>
                    <p>Das techni&#x017F;che Problem, um das es &#x017F;ich bei die&#x017F;er Praktika-<lb/>
bilität des Rechts handelt, unter&#x017F;cheidet &#x017F;ich in mannigfacher<lb/>
Beziehung von dem, welches wir unter <hi rendition="#aq">I</hi> haben kennen lernen,<lb/>
vor Allem aber darin, daß die Macht der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft hier eine<lb/>
geringere und eine Mitwirkung der po&#x017F;itiven rechts&#x017F;etzenden Ge-<lb/>
walten (Ge&#x017F;etz, Gewohnheitsrecht, Autonomie des Verkehrs) <note place="foot" n="487)">Als Bei&#x017F;piel für die Betheiligung des Verkehrs an die&#x017F;er Aufgabe<lb/>
diene namentlich der Gebrauch der Conventionalpön im römi&#x017F;chen Leben.<lb/>
S. darüber S. 113.</note><lb/>
hier in ungleich höherm Maße geboten i&#x017F;t, als dort. Es hat<lb/>
dies darin &#x017F;einen Grund, daß die Lö&#x017F;ung die&#x017F;er Aufgabe nicht<lb/>
rein und aus&#x017F;chließlich durch eine <hi rendition="#g">formale</hi> Vervollkommnung<lb/>
des Stoffs möglich i&#x017F;t, &#x017F;ondern eine gewi&#x017F;&#x017F;e <hi rendition="#g">materielle</hi> Zu-<lb/>
richtung de&#x017F;&#x017F;elben verlangt. Kann nun auch die Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft,<lb/></p>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[352/0058] Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem. tikabilität aus aber ein durchaus motivirter, ja unvermeidli- cher war. Ich könnte die Zahl dieſer Beiſpiele noch um viele vermeh- ren, 486) allein ich fürchte ſchon ſo den Vorwurf, daß ich mit ih- nen etwas zu freigebig geweſen bin. Der Grund davon lag in dem Wunſch, den Einfluß, den die Rückſicht auf Praktikabi- lität auf die materielle Geſtaltung des Rechts ausübt, die materiell-productive Kraft unſeres Geſichtspunktes mög- lichſt zu veranſchaulichen und einzuprägen. Wer den Geſichts- punkt der Praktikabilität nicht ſtets im Auge hält, wird manche Rechtsſätze gar nicht verſtehen und läuft namentlich Gefahr dem poſitiven Recht gerade da Vorwürfe zu machen, wo daſſelbe ſie am wenigſten verdient. Das techniſche Problem, um das es ſich bei dieſer Praktika- bilität des Rechts handelt, unterſcheidet ſich in mannigfacher Beziehung von dem, welches wir unter I haben kennen lernen, vor Allem aber darin, daß die Macht der Wiſſenſchaft hier eine geringere und eine Mitwirkung der poſitiven rechtsſetzenden Ge- walten (Geſetz, Gewohnheitsrecht, Autonomie des Verkehrs) 487) hier in ungleich höherm Maße geboten iſt, als dort. Es hat dies darin ſeinen Grund, daß die Löſung dieſer Aufgabe nicht rein und ausſchließlich durch eine formale Vervollkommnung des Stoffs möglich iſt, ſondern eine gewiſſe materielle Zu- richtung deſſelben verlangt. Kann nun auch die Wiſſenſchaft, 486) Ich will einige wenigſtens andeuten. 1. Beweis der Teſtaments- errichtung erforderte Beweis der familiae mancipatio und nuncupatio; Er- leichterung: Production eines Teſtaments mit 7 Siegeln, Bon. poss. sec. tabulas Gaj. II, 119. 2. Beweis der erbſchaftlichen Gläubiger gegen den Er- ben: Antretung der Erbſchaft; Erleichterung: pro herede gestio. 3. Die Publiciana actio als Erleichterung des Eigenthumsbeweiſes; 4. Beweis des mündlichen Abſchluſſes der Stipulation; Erleichterung: Production der un- terſchriebenen Stipulationsurkunde. 487) Als Beiſpiel für die Betheiligung des Verkehrs an dieſer Aufgabe diene namentlich der Gebrauch der Conventionalpön im römiſchen Leben. S. darüber S. 113.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/58
Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 352. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/58>, abgerufen am 12.05.2024.